Zeit, die Opfer noch zu hören, wird knapp

80 Jahre nach dem Einmarsch Hitlers sollten wir den letzten Überlebenden mehr Gehör denn je schenken.
Josef Votzi

Josef Votzi

80 Jahre nach dem Einmarsch Hitlers sollten wir den letzten Überlebenden mehr Gehör denn je schenken.

von Josef Votzi

über die Gedenktage an das Jahr 1938

Einmal im Jahr steht auch im bunten Treiben des Nahen Ostens ein ganzes Land für zwei Minuten still. Die Sirenen heulen, die Menschen lassen ihre Autos mitten auf der Straße stehen. Sie steigen aus, um stumm gemeinsam des Unfassbaren zu gedenken: Der Ermordung von sechs Millionen Juden.

Schon am Vorabend kommen in Israel letzte Überlebende und die Staatsspitzen zu einer Gedenk-Zeremonie in Yad Vashem zusammen. Auf dem Hinweg sind mehrere Sicherheitsschleusen wie am Flughafen zu passieren. Über dem Gelände kreisen Drohnen, um Bedrohungen aus der Luft rechtzeitig auszuspähen. Auf der Bühne erzählen sechs Überlebende ihre ganz persönliche Geschichte: Über die ersten Anzeichen des Hasses und der Verfolgung, ihren Überlebenskampf in den Vernichtungslagern, die Stunden und Tage ihrer Befreiung und die Lehren, die sie aus all dem bis heute ziehen. Es ist das berührendste und zugleich gespenstischste Holocaust-Gedenken, das ihr Chronist je erlebt hat.

Im Vorjahr kamen noch 2500 Holocaust-Überlebende zum Gedenken in Jerusalem zusammen. In Wien fanden sich gestern Nachmittag zwölf Überlebende zu einer "Würdigungsstunde" in einem Hörsaal der Uni Wien ein.

Die Gelegenheiten, sie zu würdigen und ihre Geschichten persönlich zu hören, werden immer rarer. Wir tun gut daran, jede Chance noch intensiv zu nutzen.

"Andere runtermachen weckt das Niedrigste"

Die Täternation Österreich gedenkt dieser Tage der Zeit wie alles anfing: Von 1918 über 1933 bis 1938. Ansichts dieser viele runden und halbrunden Jahrestage laden Staatsakte (wie etwa der morgen, Montag), Gedenkstunden, Ausstellungen,TV-Dokumentationen und Zeitgeschichte-Serien wie die im KURIER zur Besinnung und zum Nachdenken quer über alle Generationen ein.

Macht das alles so auch Sinn? Für die einen bietet es eine neue Chance zur Vertiefung, aber geht das auch in die Breite? Wie sind jene zu erreichen, die sagen, lasst das endlich ruhen und Vergangenheit sein? Und jene, die noch heute – wie zuletzt Tiroler FPÖ-Funktionäre – gegenseitig Hitler-Bilder als Devotionalien austauschen?

Eine bis dahin unbekannte 89jährige Ausschwitz-Überlebende sorgte als "Frau Gertrude" über Nacht im ganzen Land für Furore. Ihr Facebook-Video wurde millionenfach gesehen. Vor wenigen Wochen präsentierte sie ihre Biographie ("Gelebt, erlebt, überlebt"). Gertrude Pressburger will "ein Gespür dafür vermitteln, welch zerbrechliches und kostbares Gut der Frieden ist. Dass der Wohlstand, in dem wir leben, nicht selbstverständlich ist".

Ihr Plädoyer, das das Finale im Hofburg-Wahlkampf prägte, ist mehr denn je aktuell. "Frau Gertrude" warnte vorm "Runter- und Schlechtmachen der anderen". Denn damit werde nicht das "Anständige", sondern das "Niedrigste" geweckt – "und das war schon einmal der Fall". Die Lebens-Geschichte einer der beeindruckendsten Zeitzeuginnen Österreichs zeigt: Manche Kämpfe sind nie zu Ende. Es macht aber dennoch Sinn, sie zu führen.

Kommentare