Der amerikanische Traum trägt rot

Die Ära der Gier war gestern. Die gerechtere Verteilung von Steuern und Einkommen erlebt eine Renaissance.
Josef Votzi

Josef Votzi

Die Ära der Gier war gestern. Der amerikanische Traum trägt rot.

von Josef Votzi

über die ersten Lehren aus dem US-Wahlkampf

In den USA stehen bereits biedere Sozialdemokraten unter Kommunismus-Verdacht. Jetzt hat mit Bernie Sanders plötzlich einer Chancen bei der Kandidatenkür als Obama-Nachfolger mitzumischen, der einen Mindeststundenlohn von 15 Dollar, drei Monate bezahlte Karenz nach der Geburt und eine Abschaffung der fünfstelligen Studiengebühren fordert. In den USA galten Politiker, die mit Anleihen aus europäischen Parteiprogrammen wie diesen punkten wollten, als unverkäuflich. Mit 60 Prozent Zustimmung bei den jüngsten Vorwahlen bleibt Sanders nicht nur im Rennen. Er zwingt der bisherigen Favoritin der Demokraten, Hillary Clinton, auch einen Kurswechsel auf.

Die EU-Kommission will Ernst machen und Google, Apple, Amazon & Co den Fluchtweg in Steueroasen abschneiden. Die US-Paradeunternehmen organisieren massiven Widerstand. Demonstrative Unterstützung kommt von der OECD, dem einflussreichen Braintrust aller Industriestaaten. Für Generalsekretär Angel Gurria sind neue Spielregeln für die internationalen Finanzströme wichtiger denn je: Wenn die großen Konzernen beim Steuerzahlen auslassen, muss die Steuerschraube für die kleinen Arbeitnehmer noch mehr angezogen werden.

Die Abstiegsangst geht bald überall um

Die Frage nach einer faireren Verteilung von Steuerlast und Einkommen galt seit der Ära der Gier im Windschatten des Börsebooms der 90er-Jahre lange als uncool. Devise: "Lassen Sie Ihr Geld arbeiten." Der Traum vom arbeitslosen Einkommen war gestern. Heute erlebt die Gerechtigkeitsdebatte eine Renaissance. Konzernbosse plädieren gar dafür "sich die Frage nach einem bedingungslosen Grundeinkommen zu stellen". Denn, so Siemens-Chef Joe Kaeser im Wirtschaftsmagazin Trend, "sonst werden soziale Spannungen nicht lösbar sein."

Manager, die langfristige Strategien entwickeln, wissen im Gegensatz zu Politikern, die nur Stimmungen nachhecheln: Die Deklassierung ganzer Bevölkerungsschichten wird zunehmen. Der teure Produktionsstandort Europa steht vor einer neuen industriellen Revolution. Der weitere Vormarsch der Digitalisierung wird die schwächsten Glieder in der Produktionskette als Erste für immer ihren Job kosten. Das wird die Spaltung der Gesellschaft vergrößern und den Druck nach neuen gesellschaftspolitischen Antworten massiv erhöhen. Diese werden über noch mehr Sozialtransfers hinausgehen müssen.

Seit vor allem die jungen Amerikaner dem 74-jährigen US-linken "Wut-Opa", Bernie Sanders, zu einem Erdrutschsieg verholfen haben, steht die Frage nach mehr sozialer und steuerlicher Gerechtigkeit in den USA wieder ganz oben auf der politischen Agenda.

Die Abstiegsängste machen sich auch in Europa immer mehr in der Mittelschicht breit. Auf der Insel der Seligen, die zunehmend unter Wasser steht, wird das wachsende Heer der Politiker-Verdrossenen nach wie vor allein den Straches überlassen. Politiker, die mehr als Dampfablassen oder gar Zukunftsvisionen bieten, bleiben rar.

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