Anti-Erdoğan-Marsch als Zukunftschance

Der große Zuspruch der Türken zu der Protestaktion sollte in eine breite Bewegung umgesetzt werden.
Walter Friedl

Walter Friedl

Der große Zuspruch der Türken zu der Protestaktion sollte in eine breite Bewegung umgesetzt werden.

von Mag. Walter Friedl

über den "Marsch der Gerechtigkeit"

Da hatte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gründlich verrechnet. Als der bis dahin farblose Chef der Oppositionspartei CHP, Kemal Kiliçdaroğlu, vor knapp einem Monat seinen Protestmarsch für "Gerechtigkeit" von Ankara nach Istanbul gestartet hatte, wurde er von der Regierungspartei AKP noch verspottet. Der knapp 70-Jährige solle doch den Zug nehmen. Doch Schritt für Schritt gewann der Politiker an Statur und an Zulauf – aus allen Gesellschaftsschichten und auch aus den Reihen der Kurdenpartei HDP. Gestern erreichten die Zehntausenden ihr Ziel, zur Abschlussdemo kamen Hunderttausende.

Erstmals seit den Bürgeraufständen um den Istanbuler Gezi-Park 2013 ist Erdoğan mit einer derart starken Protestbewegung konfrontiert. Das freut den "Sultan" mäßig, weshalb er die Gegner in bewährter, aber inakzeptabler Manier ins Terroristeneck stellt, für die demokratische Ordnung ist es aber ein Hoffnungsschimmer.

Denn seit dem gescheiterten Putschversuch, der sich am Samstag zum ersten Mal jährt, hat der Staatschef den Bogen überspannt: Mehr als 100.000 Menschen wurden verhaftet, Zehntausende sitzen noch heute; mehr als 100.000 Beamte und Uni-Angestellte verloren ihre Jobs, tausende Richter und Staatsanwälte ebenso; kritische Medien wurden geschlossen, Journalisten eingekerkert. Dagegen wenden sich die Marschierer, fordern Freiheits- sowie Bürgerrechte – und eben Gerechtigkeit.

Jetzt gilt es, dieses zivilgesellschaftliche Momentum zu nützen. Eine breite Bewegung sollte entstehen, die Erdoğan mutig die Stirn bietet. Und die Pflicht europäischer Staaten beziehungsweise deren öffentlichen und privaten Institutionen ist es, dieses Pflänzchen der Demokratie zu hegen und zu pflegen – ehe es, wie andere zuvor, vom Autokraten am Bosporus brutal zertreten wird.

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