wunder WELT: Trostloses Berlin

wunder WELT: Kreislauf
Joachim Lottmann hält Berlins schönste Straße für kaputter und verschlissener als einen Hinterhof im Zweiten Bezirk.
Joachim Lottmann

Joachim Lottmann

Letztens war ich wieder für ein paar Tage in Berlin. Das hat mich schon sehr geschreckt. Ich hatte vergessen, wie komplett trostlos die deutsche Hauptstadt doch ist und womöglich immer war, im Gegensatz zum schönen Wien. Schon Alfred Kerr schrieb im vorvorigen Jahrhundert über die Berliner Häuser, sie stünden weit auseinander und hätten keinen Bezug zueinander. Kalt, unfreundlich und beziehungslos ragten sie in einen fahlen, fernen Himmel. Genau so ist es. Seit dem Krieg sowie dem Industrie-Kollaps im Osten sind endlose Brachen dazugekommen. Der Schnee liegt in scheinbar unausrottbaren Resten immer noch schmutzig herum. Die Menschen bleiben bibbernd in ihren Mietskasernen. Sie warten auf die wenigen Monate zwischen Mai und August, in denen man überhaupt nach draußen gehen kann. Dafür hat der Schwulenclub "Berghain" ganzjährig 24 Stunden am Tag geöffnet. Für diese Disco ist Berlin inzwischen in New York berühmter als die Mauer. Auf fünf Etagen tanzt mann sich die Drogen aus dem fast nackten Leib, vergisst so die defekte Fernheizung im Plattenbau. Ein grauenvoller Ort. Wie gesagt, ich lief nochmal durch diese nordeuropäische Elendsstadt, fuhr mit Ersatzbussen – "Ersatzschienenverkehr" ist da wohl das meistgehörte Wort – und spürte die schlechte Stimmung von Millionen untätiger Menschen. Ich lief die Kastanienallee entlang, immerhin die schönste Straße der Stadt, und doch so räudig, kaputt, leer, verschlissen und unrepräsentativ wie in Wien bestenfalls ein Hinterhof im Zweiten Bezirk. Vor 14 Uhr ist ohnehin niemand auf den Beinen in dieser Stadt der ewigen Jugend … Selbst wer Berlin nicht kennt und diese Impression nicht glauben mag: In Wien beginnt der Frühling bestimmt anmutiger. Um nicht völlig in Depression zu verfallen, legte ich schließlich eine DVD ein: "Opernball" von Géza von Bolváry, Wien 1937. Das war frischer als Kreuzberg 2012!

joachim.lottmann(at)kurier.at

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