Sensibel

wunder WELT: Kreislauf
wunder WELT: Joachim Lottmann über aufdringliche Personen und wie man selbst zu so einer wird.
Joachim Lottmann

Joachim Lottmann

Ich sage es nicht gern, aber ich bin als Schriftsteller ja besonders sensibel. Mit Ach und Krach genesen von einer Sommergrippe, schleppte ich mich mit letzter Kraft in ein Eiscafé in der Mariahilfer Straße und bestellte einen Fruchtbecher. Fast fiel mein Kopf erschöpft in die vor mir liegende Zeitung. Ich las wie betäubt. Als ich wieder aufblicke, steht vor mir ein fremder Mann! „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragt er. Ich nicke, bin aber empört. Prompt sucht er das Gespräch! Ich will aber allein sein. Ich bin Schriftsteller, verdammt nochmal. Er: ein Österreicher. „Ja ja, das Eiscafé Bortolotti, ein klingender Name…“, sagt er gedehnt. Ich schweige, starre in die Zeitung. Als die Bedienung kommt, die Anni heißt, so steht es auf der Rechnung, krächze ich: „Anni, zahlen!“ Der Mann sagt nun, seine Tochter würde auch Anna heißen. Nicht Anni, sondern Anna, mit a. Ich presse weiter die Lippen aufeinander. Ich zahle, den Becher lasse ich stehen, ebenso die Zeitung, die ich ihm schenke. Es ist die BILD-Zeitung. Ich murmele, im Stehen: „Rechtspopulistisches Massenblatt, aus Deutschland, elf Millionen Leser.“ Er reißt die Augen auf. Nein, davon hat er noch nicht gehört. Ich gehe ein paar Meter, erleide einen Schwächeanfall, noch wegen der Grippe, und lasse mich gleich im nächsten Straßencafé erneut in einen Stuhl fallen. Ich fühle mich betrogen. Ein paar Tische weiter sitzen zwei kolossale junge Mädchen, kräftig im Körperbau, aber mit Engelsgesichtern. Naturblond, lange Beine, viel Haut. Nicht, dass mich das interessieren würde, ich bin glücklich verheiratet. Aber nach DEM Schock gerade? Ich gehe also zu ihnen und deute auf den freien Stuhl: „Darf ich?“ Sie nicken erschrocken. Ich setze mich. Die Abendsonne senkt sich über den strahlend blauen Himmel. „Viel Publikumsverkehr heute, nicht wahr?“ beginne ich die Unterhaltung. Ich sage es nicht gern, aber plötzlich weicht alle Sensibilität von mir …

joachim.lottmann(at)kurier.at

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