über LEBEN: Vor 25 Jahren war Matura

über LEBEN: Vor 25 Jahren war Matura
Guido Tartarotti über die noch immer fehlende Einladung zu einem Klassentreffen.
Guido Tartarotti

Guido Tartarotti

Vor 25 Jahren saß ich auf meinem Popsch und versuchte, Rätsel zu lösen, deren Sinn ich nicht verstand. In den Rätseln kamen Wörter vor wie "Monotonieverhalten" oder "lineare Exzentrizität". Wenn ich mir heute meine Handschrift in dieser Arbeit anschaue, dann sehe ich darin Verachtung, Angst - aber auch die Hoffnung, dass ich meine von gegenseitigem Hass geprägte Zwangsbeziehung mit der Mathematik endlich, endlich beenden könnte. Und meine Hoffnung wurde erfüllt: Die Professorin, Gott segne ihr mildes Herz, schenkte mir einen Vierer und schrieb in die Begründung, ich sei "nicht unbegabt, aber sehr sensibel" - der nettest mögliche Euphemismus für "Vollkoffer". Vor 25 Jahren war Matura. Aber eine Einladung zu einem Klassentreffen kam jetzt nicht. Wir waren keine nette Klasse. Wir gingen miteinander ziemlich grob um. Voriges Jahr rief mich eine Klassenkollegin an und erzählte, sie habe sich jahrelang gemobbt gefühlt. Ich hatte das nicht einmal mitbekommen. Nach dem Gespräch fiel mir ein, dass ich die ganze Oberstufe hindurch nicht ein Wort mit ihr gewechselt hatte. Ich kannte ihre Stimme gar nicht. Aber interessiert hätte es mich doch, was aus denen geworden ist. Haben sie interessante Berufe ergriffen, wie Rockstar, Pirat, Geheimagent oder Berufskiller? Ein bisschen was weiß ich. Einer ist Schauspieler, und zwar ein guter, einer ist schwul, und eine ist . . . sie ist tot. Letztens brachte ich meinen Sohn zum Skikurs-Treffpunkt. Am Autobus wartete mein alter Turnlehrer, im Unterschied zu mir um kein Kilo schwerer, nur ein bisschen grauer. Als er mich sah, wurde er blass und rief: "Ned sog, du foarst da mit!" Ich antwortete: "Nein, Toni, viel schlimmer für dich. Mein Sohn fährt mit." Liebe Grüße an die alte 8a, Keimgasse, euer - wie habt ihr mich genannt? - euer Klugscheißer.

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