Nordic Sichselbstfotografiering

Der Selfiestick ist ein Mittel zum Selbstexistenznachweis.
Guido Tartarotti

Guido Tartarotti

Rom ist meine Lieblingsstadt, seit ich dort auf einer Schulreise vor 35 Jahren das Erwachsensein proben durfte. Rom ist erstens eine ganz normale Großstadt, zweitens die Hauptstadt eines unsichtbaren geistlichen Landes, einer Religion, und drittens die Hauptstadt eines Geisterreichs, des antiken römischen Reichs. Diese drei Städte überlagern und durchdringen einander, und das finde ich unheimlich und gleichzeitig faszinierend.

Was mir jetzt dort aufgefallen ist: Die Tausenden Straßenhändler verkaufen nicht mehr gefälschte Markensonnenbrillen oder Regenschirme, sondern – Selfiesticks. Vor drei Jahren habe ich in ganz Rom keinen einzigen Selfiestick gesehen, mittlerweile sieht man Rom vor lauter Selfiesticks nicht mehr.

Ich habe ja schon lange eine Theorie: Menschen tun alles, um sich selbst zu versichern, dass sie noch da sind. Deshalb schmeißen Menschen auch so gerne ihren Dreck ins Gemüse: Solange sie Spuren ihrer Existenz in der Gegend verteilen können, gibt es sie noch. Und Mist ist dabei besonders praktisch, denn Mist hat man im Prinzip immer bei der Hand. Insofern ist der Selfiestick ein Hilfsmittel zum Selbstexistenznachweis, Nordic Sichselbstfotografiering, mit Hilfe von Stöckchen ausgeführte Erinnerung daran, dass man lebt.

Beobachtet man die Menschen, wie sie durch römische Ruinen, Barockkirchen oder Straßen stolpern, dann stellt man fest: Sie sehen die Umgebung gar nicht. Sie sehen die Welt nur noch durch die Augen ihrer Handy-Kamera, also ihr eigenes Gesicht und das, was sich im Bildhintergrund noch ausgeht.

In ein paar Jahren werden die Menschen zu weinen anfangen, wenn man ihnen das Smartphone wegnimmt – weil sie ohne Blick aufs Selfie nicht mehr glauben werden, dass sie noch da sind.

Guido Tartarottis neues Kabarettprogramm "Selbstbetrug für Fortgeschrittene" hat am 2. September im Niedermair in Wien Premiere.

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