Abschied nehmen

Wer hätte gedacht, dass er mir so ein lieber Mitbewohner wird. Dabei ist er schweigsam und recht klein, manchmal sticht er sogar.

Geboren ist er im niederösterreichischen Waldviertel. Mit nur einem Meter und zwanzig Zentimetern musste er aufhören zu wachsen. Er ist mir trotzdem sofort aufgefallen, auf der Straße in Wien zwischen all den anderen. Sein sattes Grün, sein gleichmäßiger Wuchs: Ihn und keinen anderen wollte ich dieses Jahr mit nach Hause nehmen.

Einige Zeit hatte er es gut bei uns, bekam einen Kosenamen (Emil!), seine eigene Ecke und ein Stockerl. Doch mit jedem Tag verfällt er nun mehr, verliert seine Farbe und seinen Glanz. Es wird unwiederbringlich Zeit, Abschied zu nehmen. Abschied nehmen von Emil. Unserem Christbaum.

Was so ein kleiner Nadelbaum zu Weihnachten nicht alles erlebt: Familientragödien, Enttäuschung, Streit, womöglich einen kleinen Wohnungsbrand. Aber auch leuchtende Kinderaugen, Freude, Lachen und Zuneigung. Den ganzen Kosmos an menschlichen Gefühlen bekommt ein Christbaum als stiller Zuschauer mit. Und obwohl wir ihn ins innerste unseres Familienkreises lassen, wird er am Anfang des Jahres doch entsorgt.

512 öffentliche Sammelstellen gibt es in Wien, im Vorjahr wurden 135.000 Stück abgegeben. So ein Christbaum-Haufen mit vereinzeltem Lametta auf dem nassen Asphalt ist schon ein trister Anblick. Aber immerhin bekommen die Bäume noch eine Art zweites Leben: Sie werden thermisch verwertet, aus ihnen wird Strom und Fernwärme erzeugt. Ein Monat lang versorgen die alten Christbäume dann fast 3000 Haushalte.

Dass Emil irgendwann Mal ein bisschen Licht in die Bude bringt, ist also ein kleiner Trost. Doch auch wenn die Heiligen Drei Könige schon da waren. Ihn jetzt schon zu entsorgen, das ist schon ein bisschen traurig. Schließlich duftet er noch, seine Äste halten wacker die roten Kugeln.

Ein paar Tage noch, gut?

Kommentare