Kastrierte Engel

„Gesundgevögelt“ heißt ein neues Buch, in dem die wundersame Wirkung von Sex gepriesen wird – vorausgesetzt, es ist „richtiger“ Sex. Der sollte maximal vulgär und exzessiv sein – gelebte Fantasie. Prinzipiell ist an dieser Theorie nichts Falsches – aber sie heißt nicht, dass jeder Mensch ab sofort den Marathon der Geilheit leben muss, um „dabei“ zu sein.
Gabriele Kuhn

Gabriele Kuhn

Hält man so einen Marathon der Geilheit auf Dauer aus?

von Gabriele Kuhn

über ein Buch, in dem die wundersame Wirkung von Sex gepriesen wird.

Wer heutzutage mit Büchern reich werden möchte, schreibt idealerweise irgendwas mit Sex. Das möglichst explizit – exzessive Selbsterfahrung mit Gangbangs, eingeführten Duschköpfen oder Blowjob-Contests inklusive. Irgendsowas muss sich Frau Susanne Wendel gedacht haben – immerhin eine erfolgreiche Ernährungsberaterin aus München, die eh schon gutes Geld verdient. Aber: Mehr muss her! Also beglückt sie seit Kurzem mit ihrem Werk „Gesundgevögelt“ die Leserinnen und Lesern. Darin offenbart sie zweierlei: Einerseits ihren persönlichen, sexuellen Befreiungsakt. Andererseits ihr Wissen über die gesundheitlichen Auswirkungen des horizontalen Work-outs: „Genussvoller Sex ist für unsere Entwicklung und Entfaltung enorm wichtig. So, wie gesundes Essen und Trinken die richtigen Nährstoffe liefern, Schlafen uns entspannt und geistige Genüsse uns inspirieren und glücklich machen.“ Sex sei besser als jede Diät, Pille, Therapie oder Entspannungstechnik.Zu früh gefreut, wer nun auf Mutti steigt, in der Annahme, mit einem Missionars-Husch-Pfusch im Ehebett wäre die Wunderkur vollbracht. Nein, da ist Susanne Wendel sehr, sehr streng mit ihrer Klientel – und setzt etwas andere Maßstäbe. Für sie gilt nur der „richtige“ Sex. Jener nämlich, der das Zeug hätte, Menschen der „Erleuchtung“ näherzubringen. Doch wie, verdammt, sieht der aus?Dazu skizziert sich die Lebenslustige gleich selbst als (er)leuchtendes Beispiel: Ihren „life-changing Sex“ hatte Wendel (nach acht Jahren „normaler“, also exzessarmer, Ehe) mit einer Online-Bekanntschaft, die sich auf ihre Fantasien einließ. Und schwups, schon taucht der geneigte Leser in den wohl bekannten Suppentopf der Wollust, mit bewährten Ingredienzien wie Fesseln, Gruppensex oder, derzeit ganz en vogue, Sadomaso. Auch das Thema Swingerclub darf nicht fehlen – der übrigens „viel appetitlicher sei, als manche annehmen würden“. Den Supernormalos legt Wendel weichergespülte Praktiken in den Schoß: gemeinsame Massage-Workshops, Tantra-Seminare, Kuschelparty. Doch sonst „muss Sex vulgär sein“ – dafür wird sogar Hermann Hesse bemüht: „Ohne das Tier in uns sind wir kastrierte Engel.“Im Prinzip gebe ich der Frau Wendel ja recht. Lauwarmer Sex verleiht dem Leben kein Aroma von Lebendigkeit, Exzess oder Ekstase. Die Frage ist nur: Muss das immer so sein? Hält man so einen Marathon der Geilheit auf Dauer aus? Nun, alles hat seine Zeit. Nicht jeder Lebensabschnitt (und auch Partner) ist dafür geeignet, von einer Swingerparty zum nächsten Analverkehr-Event zu hecheln. Klar ist es fein, die sexuelle Biografie erfüllt zu wissen – mit Dummheiten und vielen, vielen Exzessen. Umgekehrt darf nicht heißen, dass Menschen bedauernswerter sind, weil sie in der Löffelchenstellung an einem ruhigen Sonntagmorgen vögeln, statt mit Lederhalsband und Peitsche gerüstet quer durch eine Orgie zu knallen. Lust bedeutet, die freie Wahl zu haben – zwischen guten Zeiten, schlechten Zeiten und solchen, die einfach nur öder Durchschnitt sind. Manchmal hat man einfach Wichtigeres zu tun, als sich ins Latexjankerl zu schmeißen und dauerdurchbumsen zu lassen.

 

gabriele.kuhn(at)kurier.at

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