Volkssport Fernsehen

Volkssport Fernsehen
Fußball ist in Brasilien eine Religion, Fernsehen die große Leidenschaft. Die Verbindung sorgt für einen nationalen Ausnahmezustand.
Cacau

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Die Sympathien gehören den Außenseitern.

von Cacau

über brasilianische Fernsehgewohnheiten

São Paulo, Rio de Janeiro, Fortaleza, Recife und nun am Samstag Belo Horizonte – ich reise in diesen Tagen wie ein richtiger Fan durch das Land und genieße die Spiele in den Stadien.

Dazwischen erlebe ich die WM aber immer wieder einmal wie die meisten meiner Landsleute: vor dem Fernseher. Brasilianer schauen wie die Deutschen gerne in Gesellschaft Fußball. Public Viewing gibt es zwar nicht während des Turniers – außer bei den von der FIFA organisierten Fan-Festen. Aber jedes Restaurant, jede Bar, jeder kleine Imbiss an der Ecke hat einen Fernseher, vor dem sich die Leute drängen, und nicht nur bei den Übertragungen der Spiele der brasilianischen Nationalmannschaft.

Außenseiter

Die Sympathien gehören den Außenseitern. Als ich mit meiner Familie und Freunden die deutsche Partie gegen Ghana vor einer Woche in einem Lokal in Mogi das Cruzes anschaute, waren wir die Einzigen, die nach den Toren von Götze und Klose jubelten.

Aber fast noch lieber als in einem Restaurant verfolgen die Brasilianer daheim mit Freunden die Weltmeisterschaft. Selbst in Favelas gibt es kaum eine Wellblechhütte, kaum ein Häuschen ohne Fernseher, und nicht selten steht dort sogar ein moderner Flachbildschirm. Es ist kein Luxus, sondern gehört regelrecht zu den Grundbedürfnissen.

Wenn nicht gerade ein Fußballspiel übertragen wird, sitzen Brasilianer vor einer der zahlreichen Telenovelas, die täglich gezeigt werden und eine große Leidenschaft meiner Landsleute sind. Auch als ich klein war, spielte Fernsehen bei uns daheim eine wichtige Rolle.

Manchmal standen wir zwar hungrig vom Tisch auf, weil wir wieder einmal nicht genügend Geld hatten, um ausreichend Lebensmittel zu kaufen, aber ein Fernsehgerät stand fast immer in unserem Häuschen.

Wichtige Fußballspiele waren bei uns stets große Ereignisse, erst recht Weltmeisterschaften. Nicht nur meine Eltern und meine beiden Brüder saßen vor dem Fernseher. Es kamen oft noch Freunde oder Nachbarn vorbei, so dass unser kleines Wohnzimmer dann ziemlich voll war.

Schockstarre

Die Endrunde 1990 war das erste Turnier, an das ich mich bewusst erinnere. Nachdem die Seleção im Achtelfinale ausgerechnet am großen Rivalen Argentinien gescheitert war, verfiel Brasilien in eine Art Schockstarre.

Unsere Siedlung lag an einer großen Ausfallstraße Richtung Meer, die selbst im brasilianischen Winter dicht befahren war von Ausflüglern.

An diesem Sonntagnachmittag aber war kein einziges Auto unterwegs, nur ein kleiner Junge aus der Nachbarschaft saß am Straßenrand und weinte bitterlich. Ich hoffe, dass an diesem Samstagnachmittag die Städte nur während des Achtelfinales gegen Chile leergefegt sind. Danach dürfen ruhig viele hupende Autos mit fröhlichen Menschen unterwegs sein.

Cacau kam als Claudemir Jerônimo Barreto 1981 zur Welt und wuchs in Mogi das Cruzes im brasilianischen Bundesstaat São Paulo auf. 1999 kam er nach Deutschland. Er stürmte 23-mal für das deutsche Nationalteam und zuletzt beim VfB Stuttgart.

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