"Du sollst die Waage ehren!"

Du sollst die Waage ehren!
Im Internet propagieren Blogs und Foren ein bizarres Bild von Schönheit: Magermodels sind die Vorbilder.

Sie nennen sich Elfenkind, Knochenmädchen, Glaskörper oder Thinderella, und sie haben ein gemeinsames Credo: "Dünn zu sein ist wichtiger, als gesund zu sein". Herausstechende Schlüsselbeine und Hüftknochen, ein Bauch, der beim Liegen einfällt, Rippen, die sich scharf unter der Haut abzeichnen und Oberschenkel, die sich beim Stehen auf keinen Fall berühren dürfen - derartige Merkmale beschreiben das Schönheitsideal jener Mädchen und junger Frauen, die sich der sogenannten Pro-Ana-(von Anorexia nervosa/Magersucht) bzw. Pro-Mia-Bewegung (Bulimia nervosa/Ess-Brech-Sucht) im Internet angeschlossen haben. Als essgestört nehmen sich Betroffene dabei meist nicht wahr, sie erheben ihr Essverhalten vielmehr zum "Lifestyle".

Ana stellt sich vor

"Du sollst die Waage ehren!"

"Erlaubt mir, mich selbst vorzustellen. Mein Name - oder wie mich die sogenannten Ärzte nennen - ist Anorexia. Anorexia Nervosa ist mein voller Name, aber du kannst mich Ana nennen".

So stellt Ana sich in ihrem Brief vor, und streng predigt sie fortan ihre "10 Gebote", die strikt zu befolgen sind. So verlautet das vierte Gebot etwa: "Du sollst nicht essen, ohne dich schuldig zu fühlen!", oder "Die Waage ist das Wichtigste und du sollst sie ehren!", fordert das siebente Gebot. In ihrem Brief geizt Ana auch nicht mit Bösartigkeiten: "Schlage auf diesen fetten Bauch, verdammt; Gott bist du eine fette Kuh!!" Ab jetzt soll sich alles um Ana drehen.

Fragwürdige Ernährungstipps

In Webblogs und Foren tauschen die Anhängerinnen Tipps aus, wie man die Nahrungsverweigerung vor dem besorgten Umfeld am besten verbirgt bzw. rechtfertigt, und geben einander fragwürdige Diät-Tipps, um schmerzhafte Hungergefühle auszuhalten: "Iss zwischendurch Watte!" Daneben finden sich Kalorientabellen, Listen mit Appetitzüglern und Abführmittelt, BMI-Rechner und Programme für extremes Sporttrainig. Auch werden erschütternde Ratschläge gegeben, wie sich bereits aufgenommene Nahrung wieder loswerden lässt, und auf welche Speisen bei einer Fressattacke zu verzichten sei, da man sonst vielleicht nicht bemerke, "ob man Blut kotzt".

Vorbild Thinspirations

Auf den meist sehr liebevoll gestalteten Internetseiten werden als Ansporn Bilder von mageren Models und Prominenten gesammelt, sogenannte "Thinspirations" - häufig mit Photoshop nachbearbeitete und die Realität somit verfälschende Bilder. Motivationssätze wie: "Ich möchte durch den Schnee gehen und dabei keine Fußspuren hinterlassen" verdeutlichen die Vorstellungen der Mädchen.

Genaue Zahlen darüber, wie viele deutschsprachige Seiten es zu der Bewegung gibt, sind nicht bekannt. Viele Blogs werden geschlossen und an anderer Stelle mit neuem Passwort weitergeführt. 2008 erreichte die Organisation jugendschutz.net GmbH in Deutschland nach eigenen Angaben die Entfernung von 70 % der deutschsprachigen Angebote im Internet, die sie als jugendgefährdend eingestuft hatte. Mittlerweile nehmen Anbieter wie Yahoo, MySpace, MSN oder Lycos derartige Inhalte aus ethischen Gründen freiwillig aus dem Netz. Und in der Tat sind die Seiten für Außenstehende nicht mehr so leicht zu finden. So tarnen sich viele auch als Ratgeber für gesundes Abnehmen, und es wird erst bei genauerem Hinsehen klar, dass es sich um Pro-Ana- und Mia-Seiten handelt.

Hürden

"Du sollst die Waage ehren!"

Wer in die Welt von Ana und Mia aufgenommen werden will, hat noch andere Hürden zu überwinden. Viele Blog-Inhalte und Foren sind durch Passwörter geschützt. Anhand von Fragebögen werden Neulinge auf ihre Gewohnheiten und Ziele abgeklopft, um das Vertrauen der alten Hasen zu gewinnen. Dabei sind Fragen wie "Beschreibe doch mal das Gefühl des Hungers. Ist es nicht schön?" zu beantworten. Auch wird direkt gefragt: "Sind dir die Ana-Gebote und Anas Brief bekannt? Und wie stehst du dazu?" oder "Was sind deiner Meinung nach die positiven und negativen Eigenschaften deiner ES (Anm. Esssörung)?" Pro-Mia ist unter manchen Pro-Anas verpönt. So klagt eine Userin in ihrem Blog über ihr Rutschen in die Ess-Brech-Sucht. Das Hungern fiele ihr schwer, aber dauerhauft kommt Pro-Mia für sie nicht in Frage. Mia sei schwach, ohne Disziplin und Kontrolle über sich. "Ich weiß, ich bin soooo schwach, bitte verurteilt mich nicht dafür!" Um fortan stark zu bleiben, sucht sie nun nach einem "Twin" - einem Mädchen, das ihr in Alter, Größe und Gewicht ähnlich ist, und mit dem sie den harten Weg des Hungerns künftig gemeinsam gehen will.

Gegenwind

Es gibt auch Gegenwind: "Ana ist eine Krankheit, eine Sucht und kein Spielzeug, was man eben schnell macht um abzunehmen". Aufklärende und distanzierende Blogs werden häufig von ehemals selbst Betroffenen geschrieben, die scharfe Warnungen und Appelle an Interessierte richten.

Dass hinter Essstörungen wie Magersucht und Bulimie nicht immer nur der Wunsch nach einem schlanken Körper steckt, weiß Psychotherapeutin Anna Wexberg-Kubesch. Vielmehr sei die Essstörung ein Symptom für tiefer liegende Probleme, und denen gelte es auf den Grund zu gehen. Meist seien frühe Gewalterfahrungen, sexuelle Gewalt, Leistungsdruck, das jeweils herrschende Frauenbild oder kulturelle Vorstellungen von Körper und Geschlecht in Verbindung mit Essstörungen zu sehen. Wexberg-Kubesch geht es auch besonders um die Frage, wie selbstbestimmt ein junges Mädchen oder eine junge Frau in der Gesellschaft sein kann. Das Problem müsse als Krankheit bezeichnet werden und nicht als Laune. Einen allgemeingültigen Grund, warum jemand an Essstörungen leidet, gibt es Wexberg-Kubesch zufolge nicht. Und: Nur weil jemand sein Essverhalten ändert, ist damit nicht automatisch die Frage nach dem ursprünglichen Auslöser beantwortet.

Esstörungen sind ernst zu nehmende Erkrankungen und keine Launen. Als Essstörungen werden allgemein alle die "im weiteren Sinne von der Norm abweichenden Auffälligkeiten des Essverhaltens, die zu psychischen Störungen und Veränderungen des Körpergewichts führen" verstanden. Insgesamt geht man von über 200.000 Österreichern aus, die zumindest einmal in ihrem Leben an daran erkranken. Dabei sind Mädchen und junge Frauen weitaus häufiger betroffen als Burschen und Männer.

Anorexia nervosa: Die Magersucht ist ist eine schwere, psychische Krankheit mit der höchsten Sterblichkeitsrate. Betroffene fühlen sich - unabhängig vom tatsächlichen Körpergewicht - zu fett. Sie suchen oft Selbstbestätigung, enden aber vielfach in Zwängen und Einsamkeit, manche hungern sich buchstäblich zu Tode.Bulimia nervosa: Bei der Ess-Brech-Sucht stopfen Betroffene Lebensmittel in sich hinein und führen aus Angst vor Gewichtszunahme anschließend Erbrechen herbei. 0,4% der Erkrankten sterben durchschnittlich pro Jahr an Bulimie bzw. den Folgen.Binge Eating Disorder: Bei diesem Krankheitsbild versuchen Betroffene, durch übermäßiges Essen ihre Ängste,Trauer, Wut und Einsamkeit zu kompensieren, ein "emotionales Loch" stopfen. Anfangs wechseln Fressattacken mit Diäten, doch am Ende bleiben meist nur noch die Heißhunger-Anfälle. Unter nicht näher bezeichnete Essstörungen fallen zum Beispiel wiederholtes Kauen und Ausspucken großer Nahrungsmengen, ohne sie hinunterzuschlucken oder wiederholte Episoden von "Fressattacken" ohne das für die Bulimie typische Erbrechen danach.

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