Wie Menschen aus der Armut finden

Ein Prost auf die Nächstenliebe! Von einem Gast der Diakonie
Lagebericht: Es gibt weniger Bedürftige – der Sozialstaat bleibt gefordert.

Der Arzt Michael Nebehay öffnet die Tür des Behandlungszimmers und ruft mit angenehmer Stimme den Namen des ersten Patienten in den Warteraum von AmberMed, einer medizinischen Einrichtung von evangelischer Diakonie und Rotem Kreuz im Süden von Wien.

Der Warteraum ist trotz der arktischen Temperaturen und der ewig langen Anreise aus der Stadt bis auf den letzten Sitzplatz gefüllt. Er versammelt Menschen, die in Österreich leben, aber nicht krankenversichert sind.

Auffallend: Doktor Nebehay, der wie seine fünfzig Kollegen ehrenamtlich für AmberMed arbeitet, begegnet jedem Patienten auf Augenhöhe, mit Wertschätzung.

Wert schätzen

"Wertschätzung ist ein ganz wichtiger Faktor, um die Menschen aus der Armut herauszuholen", erklärt der Sozialforscher Martin Schenk im Vorfeld der 11. Armutskonferenz, die 40 karitative Organisationen vereint.

Wie Menschen aus der Armut finden
Martin Schenk, Sozialexperte sowie stellvertretender Direktor der Diakonie Österreich und Mitbegründer der Armutskonferenz, im Interview. Wien am 27.02.2018

Die Wertschätzung stärkt auch das Selbstbewusstsein – eine Voraussetzung, damit Menschen ihr Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen können. "Auch soziale Beziehungen und sinnvolle Beschäftigungen sind wichtige Faktoren, die den Selbstwert heben", sagt Schenk. Dazu nennt er ein Beispiel, das er selbst erlebt hat: "Ein langzeitarbeitsloser Mann hat durch das gemeinsame Fußballspiel beim Verein pro mente wieder zurück in den Arbeitsmarkt gefunden." Es zeigt sich: Manchmal braucht es gar nicht viel, um Menschen zu helfen.

Umgekehrt gilt: Wer Menschen beschämt, macht sie krank: "Sie reagieren mit erhöhtem Stress, was zu psychischen Erkrankungen, aber auch zu Bluthochdruck und Herzerkrankungen führt. Je öfter, je länger und je stärker die Verachtung, desto schädlicher für die Gesundheit."

Es braucht aber nicht nur ein offenes Ohr für die Armutsbetroffenen, sondern auch Geld. Und da stehe Österreich im internationalen Vergleich relativ gut da. "Unser Sozialsystem funktioniert im Großen und Ganzen. Es schützt Menschen davor, sofort ihren Status zu verlieren, sobald Schicksalsschläge sie treffen", sagt Schenk. Scheidungen, Jobverlust oder eine Krankheit können schnell einmal aus der Bahn werfen.

Der Mitbegründer der Armutskonferenz verwehrt sich deshalb gegen die Behauptung, alles werde schlimmer: "Das stimmt einfach nicht." Auf der anderen Seite will er auch nicht mehr ständig hören, dass "der Sozialstaat nicht funktioniere und deshalb unnötig sei".

Wo es noch großen Verbesserungsbedarf gebe, sei in der Bildung: "Nur sie ermöglicht es, vererbte Armut zu überwinden", ist Schenk überzeugt. "Unser Schulsystem geht immer noch viel zu sehr davon aus, dass die Eltern einen großen Anteil leisten. Hier müssten die Schulen entgegenwirken, indem sie zum Beispiel ganztags geführt werden. Zudem braucht es Unterstützungspersonal wie Psychologen oder Sozialarbeiter – besonders an Schulen in sozial herausfordernden Gebieten."

Weniger Vollzeit

Bildung ist auch aus einem anderen Grund notwendig: "Der Arbeitsmarkt wird zukünftig immer flexibler. Sozialversicherte Vollzeit-Stellen, wie sie es jetzt gibt, werden wohl weniger", prognostiziert Schenk. "Doch diese Jobs sind die Stütze des Sozialsystems. Brechen sie weg, ist auch das System in Gefahr." Und noch etwas macht dem Sozialforscher Angst: Die Zahl der chronisch und psychisch Kranken steigt. "Für diese Menschen brauchen wir Lösungen."

Nicht immer einfach, wie der Arzt Michael Nebehay weiß. Er hat aufgrund des großen Andrangs bei AmberMed nur wenige Minuten Zeit, um Patienten seine Aufmerksamkeit und seinen Respekt zu schenken. Immerhin helfen die wenigen Minuten ein bisschen. Viele von Armut und Krankheit Gezeichneten verlassen das Behandlungszimmer aufrechter als sie es betreten haben.

Wie Menschen aus der Armut finden
Armut

Mittags schon seit vielen Jahren dasselbe Ritual: Punkt zwölf Uhr ruft jemand in der kurzen Sackgasse im Herzen von Wien-Mariahilf „Mahlzeit!“ Dann eilen die ersten Hungrigen durch den kleinen Garten in das Innere der Gustav-Adolf-Kirche.

An Tagen wie diesen ist die Einrichtung der Wiener Stadtdiakonie nicht nur Kalorienspender, sondern auch Wärmestube. Je weiter die Temperaturen unter Null fallen, umso größer ist hier herinnen der Andrang von so genannten Armutsbetroffenen.

Keine Ausspeisung

Norbert Karvanek leitet das 1987 gegründete ’s Häferl mit großer Empathie, viel Fingerspitzengefühl, vor allem aber auch mit einem großartigen Team, das ausschließlich aus Freiwilligen besteht. Daher grenzt es an ein kleines Wunder, dass immerhin an vier Tagen pro Woche (Mittwoch, Donnerstag, Samstag und Sonntag) gekocht und aufgetischt werden kann. Apropos: Wert legt der Chef-Koch auf die Feststellung: „Wir sind hier ein Armenwirtshaus und keine Armenausspeisung.“

Wie Menschen aus der Armut finden
's Häferl

Daher werden die Menschen, die zum Gratis-Essen kommen, als Gäste begrüßt und nicht als Bittsteller abgetan. Sie nehmen sich Besteck, dann suchen sie sich einen Essplatz. Alle Tische sind mit Tischtüchern gedeckt, auf den Tischen stehen Krüge mit Wasser, Gläser und Körbe mit Brot bereit. Die Freiwilligen servieren Suppe und Hauptspeise. Ein Ausrufezeichen der Nächstenliebe! Denn es kommt im Leben der Hungrigen nicht oft vor, dass sie auf Augenhöhe bedient werden.

Heute wird ein Erdäpfelgulasch aufgetragen. Auch für Roswitha. Sie erzählt, dass das Häferl für sie zu ihrer zweiten Heimat geworden ist: „Ich weiß, dass ich hier gut aufgehoben bin. Die machen sich sogar Sorgen, wenn ich eine Zeitlang nicht vorbei schaue. Und wenn mir jemand sagt, dass ich gefehlt habe, freu’ ich mich.“

Im Armenwirtshaus zeigen sich Phänomene der Armut und Ausgrenzung in allen Schattierungen: Ein Teenager, dem seine Drogensucht nicht sofort anzusehen ist, kümmert sich um seine fröstelnde Freundin. In eine Ecke verdrückt hat sich ein älteres Paar, dem der Besuch peinlich ist. Die jungen Leute, die ihre prall gefüllten Rucksäcke neben den Tischen parken, sind „Bush People“: Wenn es dunkel wird, suchen sie in den Gebüschen der Stadt Unterschlupf – und ein Mindestmaß an Nachtruhe.

Nach 14 Uhr wird es ruhiger im Bauch der schönen Kirche, die von Theophil Hansen entworfen wurde. Am Ende des Tages notiert Norbert Karvanek wieder mal: 200 Mahlzeiten ausgegeben.

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