Biblische Redewendungen gestern und heute

470 Jahre alte Bibel mit Randnotizen von Luther und Melanchthon
Biblische Redewendungen fangen bei Adam und Eva an und sind bis heute allgegenwärtig.

Ein Winterabend in einem Dorf vor fast 500 Jahren: Schneeflocken wirbeln im Schein der Laterne, als der Vater die raucherfüllte Stube betritt. Eine Kinderschar sitzt rund ums Feuer, die einzige Lichtquelle in der Kammer, und blickt erwartungsvoll auf. "Liest du uns aus der Bibel vor?", fragt die Jüngste mit vom Rauch geröteten Augen. Der Vater folgt der Aufforderung nur zu gern, ist die Bibel doch die einzige Ablenkung vom eintönigen Arbeitsleben. Er wählt eine Stelle im Evangelium nach Matthäus aus, die er und seine Kinder längst auswendig können. In diesem Text spielt ein Tier eine Rolle, das die Kinder gut kennen: ein Hahn: Bevor Jesus gefangen genommen wird, prophezeit er Petrus: "Amen, ich sage dir, in dieser Nacht, noch ehe der Hahn kräht, wirst du mich drei Mal verleugnen."

Die Redensart "danach kräht kein Hahn mehr" gibt es auch heute noch. Sie wird gebraucht, wenn man meint, dass jemand oder etwas keine Bedeutung hat – im Gegensatz zu Petrus, der nach der Gefangennahme Jesu drei Mal schwor, diesen nicht zu kennen. "Redewendungen sind wie kleine Inseln im breiten Fluss der Sprache, die aus anderen Zeiten und Kulturen in die heutige Sprache hineinragen", sagt der Autor Gerhard Wagner, der mit "Von Pontius zu Pilatus" eine Sammlung biblischer Ausdrücke vorlegt.

Wer weiß noch, dass der Stoßseufzer "Gott sei dank" auf den 1. Korintherbrief des Paulus zurückgeht? Die meisten biblischen Redewendungen haben sich über die Jahrhunderte dermaßen verselbstständigt, dass ihre Bezüge verwischt sind. Und so hat das Stoßgebet "Gott sei dank" heute fast die gleiche Bedeutung wie "zum Glück".

Die Ausnahmen von der Regel sind Ausdrücke, deren biblische Herkunft überdeutlich ist, wie im Fall von "bei Adam und Eva anfangen", "Sodom und Gomorrha" oder "David gegen Goliath".

"Die Allgegenwart biblischer Redewendungen hat etwas mit der überragenden Rolle zu tun, die die Heilige Schrift für die Entwicklung der deutschen Sprache hat", sagt Wagner. Bis ins Mittelalter wurden die Lesungen aus der Bibel auf Latein vorgenommen, die Frohe Botschaft wurde von Priestern ausgelegt. Erst Martin Luther machte die Bibel für Latein-Unkundige zugänglich.

Der Reformator setzte sich das Ziel, die Evangelien und das Alte Testament zu übersetzen, aber nicht wortwörtlich, sondern nach dem Grundsatz "dem Volk aufs Maul schauen", was die deutsche Sprache nachhaltig bereichert hat. Ausdrücke wie "Scheffel", ein mittelalterliches Raummaß, oder "Scherflein" – die Verkleinerungsform von Scherf (kleine Münze) –, die sonst längst vergessen wären, seien dank Luther wie in einer Zeitkapsel konserviert worden und dem deutschen Sprachschatz erhalten geblieben.

Luther hat auch hebräische Wörter übernommen. Beispiel gefällig? "Ein einziges Tohuwabohu" als Synonym für ein totales Durcheinander. Der Begriff bezieht sich auf "tohû wa vohû" (wüst und leer) aus dem Buch Genesis: "Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser."

Buchtipp: Gerhard Wagner, Von Pontius zu Pilatus, Redewendungen aus der Bibel, auditorium maximum, 12,95 Euro

„Mit Engelszungen auf jemanden einreden“ (= schwierige Überzeugungsarbeit leisten) bezieht sich auf das paulinische Hohelied der Liebe: „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und der Engeln redete,/ hätte aber die Liebe nicht,/ wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.“ Bedeutet: Wer das Idiom der Engel beherrscht, der gibt nur Laute von sich, die erst durch die Liebe Sinn ergeben.
Paulus, 1. Brief an die Korinther


„Jemandem die Leviten lesen“ (= energisch zur Ordnung rufen) geht zurück auf das Alte Testament: Levi, ein Sohn Jakobs, und seine Nachkommen waren von Gott zum Tempeldienst ausersehen. Sie waren für die Einhaltung der Regeln im 3. Buch Mose zuständig, das den lateinischen Namen Leviticus trägt. Im Mittelalter wurde das Buch häufig für Strafpredigten eingesetzt. Hier droht Gott dem Volk Israel Strafgerichte an: „Ich lasse auf euch die wilden Tiere los, die euer Land entvölkern, euer Vieh vernichten und euch an Zahl so verringern, dass eure Wege veröden.“
3. Buch des Mose, Kapitel 26


Jemanden „zum Sündenbock“ machen (= jemanden für alles die Schuld geben) geht zurück auf Leviticus Kapitel 16: Dort steht geschrieben, wie die Israeliten mit ihren Sünden umgingen. Ein Ziegenbock wurde geopfert, um „den Herrn“ milde zu stimmen. Diese Methode hat das Altertum nicht überlebt, wohl aber die Unart, jemand anderen für seine Verfehlungen verantwortlich zu machen. Ein zweiter Bock, der „für Asasel“ bestimmt war und auf den die Sünden des Volkes übertragen worden waren, wurde „in die Wüste geschickt.“

3. Buch des Mose, Kapitel 16

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