Von der Ehe bis zur Politik: Der Mensch in der Vertrauenskrise
Nichts gibt so viel Sicherheit und ist gleichzeitig so trügerisch wie Vertrauen. Es ist die Grundlage für alle Beziehungen – ob innerhalb der Familie, zur Lieblingsmarke oder zu Politikern. Und gleichzeitig ist der Akt des Vertrauens die Grundvoraussetzung für jeden Betrug.
Der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer hat sich auf die Spuren dieses riskanten Gefühls begeben. Von Shakespeare über Brecht bis hin zu Schnitzler birgt die Literatur unzählige Beispiele von blindem Vertrauen – und seinen katastrophalen Folgen. Im Gespräch mit dem KURIER erklärt Wertheimer, warum wir den Menschen in unserem Alltag instinktiv einen Vertrauensvorschuss geben und ob gebrochenes Vertrauen wieder repariert werden kann.
KURIER: Sie sagen, Vertrauen ist der Kitt, der die Welt zusammenhält – die US-Wahl ist aber offensichtlich ein Misstrauensvotum an die Politik.
Jürgen Wertheimer: Es ist kompliziert. Vertrauen ist der Kitt und man muss etwas riskieren und reinspringen. Aber ich komme immer wieder zu dem Bild des Sprungs in einen Swimmingpool – man sollte vorher checken, ob Wasser drinnen ist oder vielleicht Piranhas drin sind.
Wir stehen vor den Ruinen unserer bisherigen Gewohnheiten. Es kann kein Zufall sein, dass in postfeministischen Zeiten plötzlich eine Rückkehr der dominanten, alten Männer von Orban über Erdogan bis Trump passiert, die so ein patriarchisches Grundgefühl verbreiten, dem man auf eine gewisse Art vertraut. Das halte ich für alles andere als gefahrlos. Da vertraut man sich Hasardeuren der Macht an. Die schaffen Bedingungen, in denen sich der Vertrauensdiskurs erledigt.
Weil?
Weil es gerade in demokratischen Systemen offenbar ein Bedürfnis nach Vertrautheit gibt. In einem totalitären System spielt Vertrauen keine Rolle. In einem agentendurchsetzen Milieu oder in einer Diktatur hat man zu niemandem Vertrauen. Das ist schon ein großes Plädoyer für ein liberales System, in dem man relativ gefahrlos Vertrauen investieren kann.
Worauf basiert denn Vertrauen?
Wir sind so angelegt. Von Kindesbeinen an und sogar noch früher müssen wir uns darauf verlassen, dass die Umgebung es grundsätzlich nicht böse mit uns meint. Also müssen wir instinktiv einen Vertrauensvorschuss investieren, um zu überleben – an jeder roten Ampel müssen wir vertrauen, dass die Autos halten. Oder wenn wir in ein Flugzeug steigen nehmen wir nicht an, dass der Co-Pilot gerade Suizidpläne hat. Aber alles kann potenziell geschehen. Also müssen wir permanent ein großes Investment an Vertrauen in die Welt setzen. Und wie sagte Bertold Brecht so schön: Vertrauen wird dadurch erschöpft, dass es in Anspruch genommen wird. Ich glaube, da ist schon was Wahres dran.
Aber gerade Trump hat doch das Vertrauen schon sehr oft strapaziert?
Diejenigen, die ihm bedingungslos vertrauen, tun das ja offenbar gerade wegen dieser Eigenschaften, so absurd uns das erscheint. Sie werden wahrscheinlich bitter enttäuscht werden, so wie die Menschen auch bei anderen Führerfiguren der Vergangenheit nachher bitter enttäuscht im Elend waren. Aber vorerst ist es offenbar eine große Lust, Vertrauen investieren zu dürfen. Wir sind vertrauenssüchtige Wesen.
Wovon hängt das ab?
Vertrauen ist kein richtiges Gefühl, aber auch kein Wert, es ist etwas dazwischen und gar nicht so leicht zu definieren. Wenn man moderne Bildgebungsverfahren verwenden würde, könnte man das Vertrauen nicht lokalisieren, so wie viele andere Gefühle. Wenn man sich die literarischen Beispiele anschaut, ist es ein starker Reiz für uns, uns zu einem Vertrauensgefühl zu bekennen und es so intensiv wie möglich einzusetzen, um zu einer Gruppe zusammenzuwachsen. Man gehört ja dann zu einem Clan und bei Trump kann man sehr schön sehen, all die Unzufriedenen bilden einen neuen Stamm von Leuten, die sich um ein Leittier rudelartig herum gruppieren. Das gibt ein Gefühl von Stärke.
Man darf nicht zu sehr unterscheiden zwischen Literatur und Wirklichkeit – die Literatur verdichtet manchmal Sachen, die in der Realität auftreten oder dort ihren Ursprung haben. Umgekehrt versteht es die Wirklichkeit manchmal, die Literatur nachzuahmen oder darzustellen. Diese Shows, die die Amerikaner abliefern, sind ja auch kitschige Gesamtkunstwerke, in denen Gefühle erzeugt werden. In Friedrich Schillers Wallenstein scharen sich die Leute geradezu süchtig um den Feldherren Wallenstein, aber Schiller zeigt uns einen alles andere als vertrauenswürdigen Menschen. Dennoch steht er in dem Ruf, für seine Leute alles zu tun. Ein weiteres Beispiel ist Moby Dick, wo sich die Mannschaft hinter diesen verfluchten, irrsinnigen Kapitän stellt, kollektiv ins Unglück fährt und bis zum Schluss Treue schwört. Im Nibelungenlied das Gleiche: Hagen ist ein korruptes Schwein, aber die Leute bleiben ihm treu. Es ist etwas ganz Starkes, sehenden Auges in Katastrophen zu gehen und immer noch vertrauen zu wollen, fast triebhaft.
Kann man Vertrauen messen?
Das geht nicht. Das ist kein monodimensionales Gefühl wie Liebe oder Hass oder Neid – die lassen sich eher messen. Man sieht beim pränatalen Fötus allenfalls positive oder negative Reaktionen. So sind wir von Beginn an angelegt. Es gibt auch kein Urvertrauen, sondern nur eine langsame Einübung in positive oder negative Stimuli.
Vertrauen ist doch auch an Bedingungen geknüpft?
Sehr stark. Das Vertrauen setzt im Grunde einen funktionierenden Pakt zwischen zwei Menschen voraus. Du investierst eine Menge Gefühl oder materielle Werte in die Verhaltensweisen eines anderen. Du machst dir ein Bild von diesem anderen und im Idealfall entsteht ein Pakt auf Augenhöhe zwischen dem, der Vertrauen gibt und dem, der Vertrauen empfängt. Aber jeder Pakt kann auch gebrochen werden. Und nichts ist schlimmer und auf nichts reagieren wir fassungsloser. Sie können es bei Liebe oder bei Freundschaft beobachten, wenn ein als sicher gewähnter Vertrauenspakt gebrochen wird – dann gibt es harte Sanktionen, dann kippt das Ganze rabiat um, dann wird aus Liebe Hass und in der Literatur auch häufig Mord.
Muss das Vertrauen extra ausgesprochen werden?
Das ist das Problem des Vertrauens, es wird meistens gar nicht ausgesprochen. Wir sprechen auch von blindem Vertrauen – man legt für jemanden die Hand ins Feuer und drückt alle Zweifel weg – auch solche, die gar nicht aus der Welt sind, sondern die man beobachten kann. Weil man das Bild vom anderen so behalten will, dass dieser Vertrauenspakt als sinnvoll erscheint. Man manipuliert sich ein Stück weit selbst. Brecht schildert in seinem Stück Der gute Mann von Sezuan eine junge Dame, die ein gütiger Mensch ist und für den Zuschauer deutlich erkennbar in ein Dilemma nach dem anderen schlittert, weil sie gegen den offensichtlichen Augenschein immer wieder Vertrauen investiert. Andererseits ist dauerndes Misstrauen, das nichts mehr zustande kommen lässt, auch nicht das, was wir wollen. Es ist ein Balancezustand nötig, den man erlernen muss – die Augen nicht vor dem Risiko zu verschließen und dabei nicht chronisch misstrauisch zu sein.
Angeboren ist nur der Reflex positiv oder negativ zu reagieren – man wird einfach gerne belohnt. Alles andere entwickelt sich aufgrund späterer Erfahrungen. Das hängt sehr vom kulturellen Kontext, den Rahmenbedingungen ab. In der chinesischen Kultur spricht man fasst nie davon, Vertrauen zu schenken, wie man bei uns sagt, sondern man muss es sich verdienen. Das ist eine ganz andere Grundeinstellung. Im Deutschen sagt man etwa, wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein – in vielen arabischen Ländern heißt es, wer Brüdern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Das ist ein großer Unterschied. Da gilt der eigene Clan als vertrauenswürdig, dasselbe kulturelle Umfeld. Das ist dann nicht so unproblematisch, wenn solche unterschiedlichen kulturellen Prägungen im Zeitalter der Migration verstärkt aufeinandertreffen.
Wie steht es um das Vertrauen zu Migranten in der Literatur?
Liest man Texte wie Othello von Shakespeare oder von Heinrich von Kleist Die Verlobung in St. Domingo macht man eine erschreckende Entdeckung: Wann immer ein fremdes Individuum in ein geschlossenes Szenarium tritt, werden die Antennen des Misstrauens hochgefahren und es stellt sich ein kollektives Abwehrverhalten ein. Von daher muss man gar nicht so überrascht sein, auch wenn wir verunsichert und manchmal aggressiv reagieren. In den Stücken nimmt dieser Zustand des Misstrauens dem Fremden gegenüber auch nicht ab, wenn man den Fremden besser kennt. Bei Othello ist es überdeutlich: Immerhin ist das der führende General Venedigs, völlig integriert, geradezu eine Leitfigur, ein Obama Venedigs. Die Stimmung kippt – nicht etwa, als er ein venezianisches Mädchen entführt –, sondern er verliebt sich. Von diesem Moment an verwandelt er sich in den Augen der Gesellschaft vollständig: er wird zum Schwarzen, zur Bestie, zum Dämon, zum Teufel. Vollends zum Skandal wird die geplante Hochzeit – man fürchtet Vermischung, Mischlinge. Die meiste Angst haben die Menschen ohne es zu wissen vor der Integration. Sie fördern etwas, was sie gar nicht wollen. Und deshalb reagieren die Gruppen bei uns auch so völlig verschieden. Es gibt einen kopfgesteuerten Teil, der will die Integration. Und es gibt einen Bodensatz, der die eigene Ethnie vor Vermischung schützen will. Das klingt jetzt ganz furchtbar, aber ich kann auch nicht anders als das wahrzunehmen, was aus den Texten spricht. Der Befund ist sehr deutlich.
Was, wenn das Vertrauen gebrochen wird?
Dann kommt es immer zum Schlimmsten. Der Liebende bringt stets seine noch immer geliebte Freundin auf offener Bühne um. Man investiert ungeheuer viel an emotionalen Energien in ein Vertrauensverhältnis und was dann rauskommt, wenn es sich als Fälschung erweist, ist die gleiche heftige Gegenreaktion. Vertrauen ist auch deshalb so ein schwieriges Ding, weil man es so gut spielen kann.
So wie Heiratsschwindler?
Nicht nur jeder Heiratsschwindler ist ein wunderbarer Vertrauensdarsteller, auch jeder Betrüger. Der muss erstmal die Antennen seines Gegenübers zu einem vertrauensschaffenden Verhältnis öffnen – und das gelingt ja offenbar immer wieder. Wenn wir bedürftig sind, dann riskieren wir alles und wollen das Vertrauen auch gegen die Wirklichkeit durchsetzen. Schwache Menschen oder jene in einer Krisensituation sind extrem gefährdet. Vertrauen kann der Rettungsanker sein, aber auch die Schlinge, in der sie umkommen.
Je bedürftiger, desto mehr vertraut man also?
Man hat das Bedürfnis, sich eine Anerkennung zu sichern. Und ein Mittel dazu ist, die Signale des Vertrauens auszusenden. Das erhöht den eigenen Status, man fühlt sich emotional geborgener und die Belohnungssysteme springen an. Am Anfang mag das zu einer Entlastung führen, aber dann gerät man in einen Prozess und wenn man dann keinen vertrauenswürdigen Partner auf der anderen Seite der Leitung hat, kann das katastrophal enden.
Liebe und Vertrauen hängen auf eine ganz komplizierte Art miteinander zusammen. Ich erinnere mich da gerne an eine Derrick-Szene: Sie sagt, vertraust du mir überhaupt noch? Er antwortet: Ich liebe dich, aber vertraut habe ich dir nie. Das zeigt sehr gut, dass die Liebe ein Zustand ist, der das Vertrauen überspringt. Und die Frage gar nicht mehr danach stellt. Der Kern vieler später katastrophaler Entwicklungen.
Setzt die Liebe das Vertrauen nicht voraus?
Sagt man immer so, denkt man immer so. Ich glaube, die Liebe ist so ein starkes Gefühl, dass es das Vertrauen stillschweigend als gegeben voraussetzt. Man setzt es voraus, aber das ist ja nur eine Annahme. In jeder Partnerschaft kommt es sehr häufig dazu, dass Zustände völligen fraglosen Vertrauens mit leichter oder schwerer Irritiertheit abwechseln. Und es ist immer an uns, mögliche Signale für eine Treulosigkeit auszublenden, weil wir ja unseren Vertrauenspakt nicht gefährden wollen.
Kann gebrochenes Vertrauen wieder repariert werden?
Einerseits müssen wir davon ausgehen, dass etwas Kaputtes wieder hergestellt werden kann. Andererseits bleibt durch die Erinnerung etwas haften. Ein geläutertes Vertrauen, das von seiner eigenen Bedingtheit weiß, ist gar nicht das Schlechteste. Es muss kein Urvertrauen sein, es gibt auch ein reduziertes, aber aufrichtiges Vertrauen. Es gibt ein schönes Beispiel von Arthur Schnitzlers Traumnovelle, wo sich die beiden Partner in Abgründe begeben und voneinander entfernen. Am Ende nach einer Nacht sprechen sie alles aus und schaffen eine quälende und schmerzhafte Klarheit. Aber danach können sie weiterleben miteinander. Das geht schon, man soll sich nichts vormachen.
Und wo endet diese Zuversicht?
Das ist sehr abhängig von den Rahmenbedingungen. In unserer Kultur ist das Vertrauen zu einer rabiat kommerziellen Marketingstrategie geworden. In dieser kapitalistischen Gesellschaft wird mit nichts anderem mehr als mit Vertrauen geworben. Man denke nur an den Abgas-Skandal von VW und eine Woche später schaltet der Konzern selbst Werbung, wo es heißt: Geben Sie uns Ihr Vertrauen wieder. Das ist ein gefährliches, törichtes Instrument – es ersetzt die Fakten durch einen behaupteten Vertrauenspakt. Die Kirchen, die Parteien, alle werben um Vertrauen. Und brechen es täglich. Es ist so ein komischer Zustand geworden, jeder sieht, dass Vertrauen nur eine Forderung ist, aber keine Realität mehr hinter sich hat. Wir leben in schizophrenen Zeiten.
Aber das führt das Vertrauen ad absurdum?
Ja und es könnte das Vertrauen auch aushöhlen. Wenn es so inflationär wiederholt wird, wird es inhaltsleer. Und dann wird es auch gefährlich für diejenigen, die das Vertrauen besser zu spielen wissen als andere. Und sogar eine Grobheit und Vulgarität, siehe Trump, können von manchen als Zeichen der Ehrlichkeit gedeutet werden – und dann schenkt man dem, der einen am meisten hinters Licht führt, das meiste Vertrauen.
Buchtipp: "Vertrauen – ein riskantes Gefühl" von Jürgen Wertheimer und Niels Birbaumer. Ecowin Verlag, 204 Seiten, 24 Euro.
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