"Leute wie Samuel Koch inspirieren mich nicht"

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Laura Gehlhaar will nicht bemitleidet werden, weil sie im Rollstuhl sitzt – ihr Leben ist genauso gut oder schlecht wie jedes andere. Die Bloggerin erzählt, wie sie mit Vorurteilen und Unsicherheiten in der Gesellschaft bricht.

Kannst du Sex haben?" Oder: "Toll, dass du trotzdem rausgehst!" Mit Aussagen wie diesen ist Laura Gehlhaar in ihrem Alltag ständig konfrontiert. Die 33-Jährige sitzt seit ihrem 22. Lebensjahr im Rollstuhl – durch eine Muskelerkrankung können ihre Beine sie nicht mehr tragen. Das hat Gehlhaar aber nicht daran gehindert, in Holland und Berlin Sozialpädagogik zu studieren. Und dieselben Probleme wie Liebeskummer oder Berufsstress durchzumachen wie jeder andere auch.

Nachlesen kann man diese Erfahrungen mit viel Selbstironie statt Selbstmitleid in ihrem Blog "Frau Gehlhaar" und ihrem neuen Buch "Kann man da noch was machen". Im Gespräch mit dem KURIER erklärt die Aktivistin, warum sie als Behinderte bezeichnet werden will und warum es zwischen Menschen mit und ohne Behinderung so viele Hemmungen gibt.

KURIER: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass ein Leben im Rollstuhl in der Gesellschaft als etwas ganz Furchtbares angesehen wird. Wie ist es denn für Sie?

Laura Gehlhaar: Nicht furchtbar (lacht). Es ist ein Leben, das sehr vielfältig ist, das mich herausfordert und das ich sehr gerne mag, weil ich es mir so eingerichtet habe, dass ich mich sehr wohlfühle. Mit Behinderung und all den anderen Facetten, die ich zu bieten habe.

Sie kämpfen gegen das Schreckensbild, das viele mit dem Rollstuhl verbinden. Wie sollte dieses Bild Ihrer Meinung nach aussehen?

Ich glaube, dass Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft immer noch sehr als passive Menschen, als Opfer gelten, und bemitleidet werden, weil sie eine körperliche oder geistige Behinderung haben. Ich möchte aus dieser Denkstruktur ausbrechen und den Leuten vermitteln, bzw. sie sensibilisieren, dass ein Leben im Rollstuhl genauso gut und genauso schlecht sein kann wie jedes andere Leben auch. Und möchte die Leute dazu bewegen, ihre eigenen Denkstrukturen zu durchbrechen und zu hinterfragen. Dadurch, dass sie denken, dass ein Leben im Rollstuhl negativ ist, fällen sie ein Urteil über mich und mein Leben. Und das möchte ich nicht. Das ist sehr persönlich und da sollte sich jeder mal fragen, warum denke ich das überhaupt und wer vermittelt das Bild überhaupt. Kommt das aus den Medien, habe ich jemanden im Bekanntenkreis, der so ist? Warum habe ich dieses Vorurteil?

Und wie schaffen Sie es, aus diesem Vorurteil auszubrechen und die Menschen aufzurütteln?

Ich glaube, dass ich durch meinen Blog schon sehr viel sensibilisiert habe und gezeigt habe, ich bin ein Teil dieser Gesellschaft und mache diese Gesellschaft mit aus und arbeite dafür. Ich möchte aktiv daran beteiligt sein. Das mache ich, indem ich in meinem Blog auf Diskriminierung und Vorurteile aufmerksam mache, wie zum Beispiel durch das Bullshit-Bingo (siehe links).

Aber wie schaffen es andere Rollstuhlfahrer, die mit solchen Vorurteilen konfrontiert sind?

Mit Aufklärung. Ich glaube, jeder – ob mit oder ohne Rollstuhl – ist für sich verantwortlich und muss sich ein Stück weit weiterbilden und ansehen, wie es mit der Exklusion steht. Wo gibt es eigentlich behinderte Menschen in meinem Alltag? Laut Statistik hat in Deutschland jeder Zehnte eine Behinderung (in Österreich haben laut Sozialministerium sogar 13 Prozent eine "körperliche Beeinträchtigung der Beweglichkeit", Anm.) aber wo sind diese Leute? Wenn Sie jetzt in Ihren Freundeskreis schauen und zehn Leute abzählen – wo ist derjenige, der eine Behinderung hat? Wo leben diese Menschen, was machen die, wo arbeiten sie? In Deutschland werden Menschen mit Behinderung systematisch ausgeschlossen, indem sie auf Sonderschulen oder Förderschulen gehen, sie arbeiten in Behindertenwerkstätten und müssen in Wohnheimen untergebracht werden. Und das ist schade, weil sie dann nicht in der Mitte der Gesellschaft stattfinden können.

Warum gibt es denn so viele Missverständnisse und Hemmungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung?

Viele Reaktionen, die ich auch in meinem Buch beschreibe, beruhen auf Unsicherheiten der Leute. Und dass sie nicht wissen, wie begegne ich der Person, die im Rollstuhl sitzt und eine Behinderung hat. Diese Unsicherheit kommt daher, weil diese Leute nie in ihrem Alltag mit Menschen mit Behinderung in Berührung gekommen sind. Und das kommt daher, dass Kinder einfach getrennt werden und nicht zusammen geschult werden oder in inklusive Kindergärten gehen. Das ist traurig. Wenn man als Kleinkind damit groß geworden ist, dass es verschiedene Behinderungen gibt, ist das nichts Besonderes. Dann weiß man das und weiß, wie man damit umgeht und dann ist auch keine Unsicherheit da. Deshalb ist es so unglaublich wichtig, dass alle zusammen miteinander aufwachsen und miteinander leben.

Das sieht man auch in der Sprache. Viele wissen noch immer nicht, welche Bezeichnungen sie verwenden sollen, wenn es um Menschen mit Behinderung geht.

Ich finde ganz wichtig, dass man sich an die Political Correctness hält. Es heißt Behinderung. Und es ist eine Behinderung. Und ich bin behindert, das ist so. Und daran ist auch nichts Schlechtes. Viele Leute benutzen das Wort Handicap, was ich echt nicht mag, weil es so ein Euphemismus ist und vielleicht cooler klingt als das Wort Behinderung. Es stellt das Wort Behinderung aber in ein schlechtes Licht. Aber an dem Wort "behindert" ist nichts Schlechtes , weil es einfach einen Zustand beschreibt. Und an diesem Zustand ist auch nichts schlecht oder schlimm. Deshalb mag ich es sehr, wenn man das Kind beim Namen nennt und es neutral verwendet und nicht versucht, drumherum zu reden.

"Leute wie Samuel Koch inspirieren mich nicht"
Laura Gehlhaar
Was müsste sich im Umgang mit behinderten Menschen ändern?

Ich bevorzuge das Wort Begegnung, weil Umgang einen passiven Touch hat. Im Umgang miteinander ist der Schlüssel Respekt und Freundlichkeit, so wie man allen anderen Menschen auch begegnen sollte.

Welche Verantwortung haben Menschen mit Behinderung selbst? Etwa, sich nicht in die Opferrolle zu begeben?

Jeder ist zuerst einmal für sich selbst verantwortlich, auch Behinderte. Und da müssen sie laut werden und für ihre Rechte kämpfen, weil sie es leider noch immer müssen. Behinderte Leute müssen den anderen Leuten außerdem Fehler zugestehen – auch wenn es nervt und ätzend ist. Denn Inklusion passiert nicht von heute auf morgen. Das ist ein Prozess, der noch ziemlich lange anhalten wird und so lange müssen wir uns auch damit herumschlagen, mit dieser Unsicherheit.

Ist Inklusion so wie Integration etwas, das von beiden Seiten ausgehen muss?

Klar. Denn wenn nur eine Seite mitmacht, ist das natürlich nicht gut. In Deutschland ist es ein Phänomen, dass viel über Behinderte geredet wird, aber wenig mit ihnen. Das muss sich ganz schnell ändern, damit auch behinderte Menschen eine Stimme bekommen, die gehört wird.

Sie schreiben in Ihrem Buch, es liegt nicht an Ihnen, dass Sie sich oft hilflos oder ausgegrenzt fühlen, sondern an der Gesellschaft und den sozialen Strukturen. Wie leicht oder schwer tun Sie sich denn heute im Alltag mit dem Rollstuhl?

Ich merke, dass ich immer noch sehr viel Ausgrenzung erfahre. Im Sinne von, dass ich nicht überall reinkomme, weil da Treppen sind. Das heißt nicht, dass man jetzt sofort alle Treppen beseitigen muss. Aber ich würde mir wünschen, dass ich mehr Bereitschaft sehe, auch barrierefreie Zugänge zu gewährleisten. Dass die Leute sich bewusst sind, es gibt Menschen mit Behinderung, die auch hier in mein Café reinkommen oder in meinem Hotel einchecken möchten. Das sind ja auch Kunden und Gäste.

Was würden Sie Menschen raten, die jetzt in die Situation kommen, auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein?

Ich würde ihnen raten, sich zuerst einmal in Ruhe an ihre neue Situation heranzutasten und sich nicht von außen sagen zu lassen, das kannst du nicht oder lass das mal lieber. Am besten alles selbst ausprobieren und dann seine eigenen Grenzen ausloten und die Erfahrung sammeln.

Wie ist das denn für Sie, wenn Sie Leute wie Samuel Koch oder Kira Grünberg beobachten – sind das für Sie Vorbilder, Stimmen für Menschen im Rollstuhl?

Ich finde das schwierig, weil man diesen Leuten sehr viel Verantwortung gibt. Ich würde niemanden in eine Rolle hineindrücken. Die müssen ja auch schauen, wie sie mit ihrer Behinderung klarkommen – vor allem, wenn sie frisch ist. Für mich sind solche Leute, die durch einen Unfall noch mehr in der Öffentlichkeit stehen, Menschen wie jeder andere auch. Sie inspirieren mich nicht und laden mich auch nicht zum Denken ein, dass jeder Tag unheimlich wertvoll ist. Für mich sind das Leute, die in einer Station ihres Lebens nicht so viel Glück hatten und jetzt versuchen, das Beste daraus zu machen. Sie machen ihre Sache vielleicht gut und vielleicht auch nicht. Vielleicht ziehen sie sich irgendwann zurück oder gehen noch mehr in die Öffentlichkeit wie Samuel Koch, der ja auch als Schauspieler arbeitet. Aber das ist dann deren Sache und dann sollen die das genauso machen. Dafür gibt es andere Dinge, für die ich diese Menschen bewundere – wie Samuel Koch, der für mich ein grandioser Schauspieler ist auf der Bühne. Das ist mir viel wichtiger als seine Behinderung.

Aber Sie haben als Bloggerin und jetzt als Buchautorin auch eine Vorbildrolle, oder?

Wenn ich für Leute so eine Art Idol oder Vorbild sein kann, dann ist das gut und dann freue ich mich darüber. Aber es ist nicht meine Absicht, die Heldin zu sein oder für alle Menschen mit Behinderung zu sprechen. Jeder ist da anders und jeder geht anders mit seiner Behinderung um. Ich habe für mich diesen Weg gewählt, weil er mich glücklich macht und ich mich damit wohlfühle. Wenn das für Leute gut ist, dann ist das super und dann sollen sie das so machen.

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