Rape Culture: "Männern sind Privilegien oft nicht bewusst"

Nein heißt Nein ist eigentlich nicht schwer zu verstehen.
Gewalt gegen Frauen sind keine Einzelereignisse, sondern ein weit verbreitetes gesellschaftliches Problem.

An der kalifornischen Elite-Universität Stanford vergewaltigt ein Student eine bewusstlose Frau und wird dafür lediglich zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Gina-Lisa Lohfink zeigt zwei Männer wegen Vergewaltigung an und soll am Ende des Verfahrens 24.000 Euro Strafe wegen falscher Bezichtigung bezahlen.

Diese beiden Fälle sexualisierter Gewalt beschäftigen seit einigen Wochen die Medien. Doch sie sind keine singulären Ereignisse. Laut einer Untersuchung der Europäischen Agentur für Grundrechte erlebt in der EU eine von drei Frauen sexualisierte und/oder körperliche Gewalt. Jede siebte sogar eine schwere Form davon.

Romeo Bissuti, Obmann der White Ribbon Kampagne Österreich, einer Kampagne von Männern gegen Männergewalt an Frauen, erklärt im KURIER-Interview, welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Gewalt gegen Frauen begünstigen und welche Rolle den Medien in puncto Aufklärungsarbeit zukommt.

KURIER: In Berichten über Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Frauen taucht immer wieder der Begriff Rape Culture, wörtlich mit Vergewaltigungskultur übersetzt, auf. Wie definieren Sie diesen Begriff?

Romeo Bissuti: Historisch ist der Begriff aus dem US-amerikanischen Feminismus hervorgegangen. Er versucht zu beschreiben, dass Gewalt und sexuelle Gewalt, aber auch Vergewaltigungen und Belästigungen von Frauen nicht nur Taten von einzelnen Personen sind, die verrückt oder psychisch krank sind, sondern gesellschaftliche Bedingungen existieren, die das wahrscheinlicher und möglich machen.

Wo zeigen sich diese Bedingungen in unserer Gesellschaft?

Auf jeden Fall in der Ungleichstellung zwischen Männern und Frauen, aber auch in dem Unwissen von Männern darüber, was es überhaupt heißt, Opfer von sexueller Gewalt und sexueller Belästigung zu werden. Darum werden die Vorfälle oft bagatellisiert.

Viele Männer glauben, dass sie mit ihrer Partnerin gleichberechtigt zusammen sind. Es ist eine gefühlte Gleichwertigkeit, die aber in vielen realen Bereichen keine Gleichwertigkeit ist. Deutlicher wird das zum Beispiel, wenn ein weißer Mann mit einer schwarzen Frau zusammen ist und mitbekommt, dass sie beschimpft oder blöd angemacht wird. Er würde bemerken, dass die Gesellschaft einen Unterschied zwischen seiner Hautfarbe und der seiner Partnerin macht. Dieses Bewusstsein gibt es nicht, wenn nur Mann und Frau als Differenz übrig bleibt.

Gibt es ein konkretes Beispiel für diese Ungleichstellung?

Der US-amerikanische Soziologe Michael Kimmel hat das treffend mit der Aussage "Eigene Privilegien spürt man nicht" beschrieben. Vielen Männern ist nicht klar, dass sie in bestimmten Dingen privilegiert sind. Zum Beispiel darin, dass es dazugehört, so ziemlich alles, was es gibt, mit nackter Frauenhaut zu bewerben. Damit wird die Verfügbarkeit des weiblichen Körpers für den Mann repräsentiert und ein Klima geschaffen, das Männer dazu einlädt, Grenzverletzungen zu begehen.

Wie kann ein stärkeres Bewusstsein für solche Grenzverletzungen geschaffen werden?

Medien haben die Aufgabe, aufklärend und sensibilisierend zu arbeiten und aufzuzeigen, wo eine Grenzverletzung beginnt. Die Schwierigkeit dabei ist, Frauen nicht als Opfer zu stilisieren. Diese Klarheit ist auch für Menschen wichtig, die gar nicht bewusst übergriffig sind oder diesbezüglich gar keine Absichten haben.

Medien geraten jedoch in eine Glaubwürdigkeitsfalle, wenn sie einerseits über Seximus berichten und andererseits sexistische Werbesujets zeigen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Kampagne des Wettanbieters Bet-at-Home zur Fußball-EM (der KURIER berichtete), bei der ein Spechtler durch ein Fernglas eine nackte Frau beobachtet. Das ist eine Einladung, sich Frauen gegenüber im öffentlichen Raum voyeuristisch zu verhalten.

Was läuft aus Ihrer Sicht in der Berichterstattung über Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt falsch?

Neben Sex sells gilt auch das Credo Skandalisierung sells. Ich würde mir wünschen, dass Medien über alle Formen von sexueller Gewalt gegen Frauen berichten und nicht nur über jene einer Tätergruppe, die man ohnehin diffamieren möchte. Dass man hier mit der gleichen Brille hinschaut und alle Vergewaltigungsfälle in der Öffentlichkeit zum Thema werden, nicht nur zu Silvester, sondern auch bei anderen großen Festivitäten wie beispielsweise dem Oktoberfest oder dem Donauinselfest. Außerdem sollte klargemacht werden, dass die meisten Übergriffe nicht angezeigt werden, weil sie von Personen aus dem Bekanntenkreis verübt wurden.

Hat sich die Berichterstattung aus Ihrer Sicht seit den Vorfällen in Köln geändert?

Leider ja, ohne mich auf Daten berufen zu können. Es gab zum Beispiel vor einigen Monaten in den Medien die Meldung, dass ein Mann mit Fluchthintergrund einer Frau am Westbahnhof auf den Hintern gegriffen hat. Ich will das nicht verharmlosen oder entschuldigen. Es ist aber mein Eindruck, dass hier selektiv vorgegangen wird, um Aufmerksamkeit durch eine Skandalisierung zu erregen, wenn man bedenkt, wie vielen Frauen von österreichischen Männern auf den Hintern gefasst wird.

Welche Fälle sexueller Gewalt bekommen aus Ihrer Sicht zu wenig Aufmerksamkeit?

Ein Diskurs, der nahezu gar nicht geführt wird ist, dass auch Männer Opfer von sexueller Gewalt werden. Oft durch Männer, aber auch durch Frauen. Das finde ich schade. Wenn er geführt wird, bekommt er hingegen ein Maß an Aufmerksamkeit, das oft nicht verhältnismäßig ist. Miteinher geht dann die Behauptung, dass Frauen die viel ärgeren Täterinnen sind. Dabei gibt es im Feminismus eine sehr differenzierte Auseinandersetzung mit der eigenen Täterinnenschaft.

Warum ist das bei Männern so?

In vielen Bereichen passt das nicht mit dem Männlichkeitsrollenbild zusammen. Die Wahrnehmung von Männern als Opfern schmeckt vielen nicht. Männer tendieren dazu, dass sie bei einer Verletzung des eigenen Selbstwertgefühls, die nach solchen Taten passieren kann, dieses durch besonders maskuline Inszenierungen wieder zu heilen versuchen.

Dazu zählen verschiedene Formen von sucht- oder gewalttätigen Mechanismen. Bei Männern, die Opfer von sexueller Gewalt wurden, gibt außerdem ein erhöhtes Risiko für Suizid. Platt gesagt ist das tragischerweise oft eine typisch männliche Form, damit umzugehen.

In Meldungen über sexuelle Gewalt und Vergewaltigungen wird der Vorgang oft recht explizit geschildert. Ist das notwendig oder sensationsgeil?

Wenn man beschreibt, was tatsächlich passiert ist, bewegt sich das oft an der Grenze, Bilder zu liefern, die im Kopf bleiben und die einen selbst triggern. Es ist schwierig, für dieses Thema zu sensibilisieren, ohne ein voyeuristisches Element reinzubringen.

Es ist trotzdem wichtig, die Dinge zu benennen, denn sonst verschwinden diese Vorfälle hinter einem Vorhang und werden Teil des Rape-Culture-Mechanismus, indem dann gesagt wird, dass alles nur halb so schlimm sei.

In den Medien werden Vergewaltiger oft als Sextäter beschrieben. Ist diese Bezeichnung zutreffend?

Der Punkt ist, dass es sich bei den Tätern in der Regel um ganz normale Männer handelt, die eine Gelegenheit ausnutzen und denken, dass sie schon nicht erwischt werden.

Mit der Bezeichnung Sextäter wird eine Andersartigkeit hergestellt, obwohl es sich um eine erschreckende Normalität handelt. Der Täter wird als triebgesteuertes Individuum dargestellt, doch eigentlich geht es um Machtverhältnisse.

Lesenswert in diesem Zusammenhang ist das Buch "Bieder, brutal" des Soziologen Alberto Godenzi aus dem Jahre 1989, wo sich Männer und Frauen melden konnten. Frauen, die Opfer von sexueller Gewalt wurden und Männer, die vergewaltigt haben. Es haben sich tatsächlich an die 30 Männer für ein anonymes telefonisches Interview bereit erklärt und haben erzählt, warum sie das getan haben. Diese Männer sind keine außergewöhnlichen Männer, sondern hatten das Gefühl, sich ihr Recht zu nehmen, zum Beispiel bei der Ehefrau oder mit dem Argument, Frauen hätten den Übergriff durch ihre Kleidung herausgefordert. Ich glaube nicht, dass sich daran etwas radikal verändert hat.

Das zeigt sich zum Beispiel dann, wenn der österreichische Polizeipräsident Gerhard Pürstl gab nach den Vorfällen von Köln Frauen den Ratschlag, sich in der Nacht nicht alleine draußen aufzuhalten.

Das ist leider richtig. Man würde sich bei Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern mehr Genderkompetenz wünschen. Man kann oft damit rechnen, dass Frauen in politischen Ämtern hier sensibilisiert sind. Es gibt aber auch sehr viele Männer, die sich engagieren und klar solidarisch zeigen.

Sie sind Obmann der White Ribbon Kampagne Österreich, die es sich zum Ziel gemacht hat, Männergewalt in Beziehungen zu beenden. Welchen Ratschlag geben Sie Männern konkret?

Dass man sich als Mann vertrauensvoll mit Frauen unterhält und sie in einem guten Moment fragt, was für sie Belästigung ist und wo sie das schon einmal erlebt haben. Man muss das mit viel Fingerspitzengefühl machen, denn man weiß nie, ob eine Frau nicht schon viel Schlimmeres erlebt hat. Trotzdem empfehle ich Männern, sich zu erkundigen und sich einmal ein Bild zu machen.

Wenn ich in Seminaren die Frage stelle, welche Frau schon einmal Erfahrungen damit gemacht hat, angegrapscht oder blöd angemacht worden zu sein, gibt es keine, die das nicht kennt. Es gibt keine Frau, egal welchen Alters oder aus welcher Generation, die diese Erfahrungen in ihrem Leben nicht gemacht hat.

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