Nicole Jäger: Ein Hoch auf das Unvollkommene

Nicole Jäger: Ein Hoch auf das Unvollkommene
Wir sind offen für Schönheit, nicht aber für Vielfalt, kritisiert die deutsche Kabarettistin Nicole Jäger.

Mitte 20 brachte sie 340 Kilo auf die Waage. Nach einer Panikattacke mit Herzrasen nahm sie 170 Kilo ab, arbeitete als Ernährungscoach und schrieb einen Bestseller ("Die Fettlöserin"). In ihrem neuen Buch und auf der Bühne (am 17. März 2018 im Globe Wien) thematisiert Nicole Jäger (35) ihre Erfahrungen als dicke Frau – und plädiert für einen entspannteren Umgang mit Körperlichkeit.

KURIER: Sie beschweren sich gerne, dass Sie in Interviews zuerst nach Ihrem Gewicht gefragt werden. Warum?

Nicole Jäger: Es bringt die Problematik auf den Punkt. Ich bin nämlich auch groß, kurzsichtig und blond – wir könnten also über tausend Dinge sprechen. Aber die erste Frage ist immer, wie viel ich wiege.

Sie machen Ihr Gewicht ja auch selbst zum Thema.

Man muss ja nicht so tun, als wäre ich nicht übergewichtig, es wäre nur schön, wenn es eine höhere Normalität hätte. Wir sind noch lange nicht so weit, dass wir die Themen Weiblichkeit und Körperlichkeit unbeschwert betrachten. Wir sind offen für Schönheit, aber nicht für Vielfalt. Frauen sind ihr Leben lang damit beschäftigt, jemand anderer, besser zu sein. Ich wünsche mir, dass sie vor dem Spiegel stehen und sagen: "Vielleicht bin ich nicht die schönste Frau, die ich kenne – aber ich bin die schönste Version meiner selbst."

Wie reagieren die Menschen auf Sie?

Es gibt ein Phänomen, ich nenne es liebevoll "Der Pudding kann sprechen". Wenn ich einen Raum betrete, gehen in den Köpfen der Menschen oft gewisse Schubladen auf mit Karteikarten wie "faul" oder "nachlässig". Dann unterhalten sie sich mit mir und sagen Sätze wie: "Sie können ja voll gut sprechen!" Das ist ein Grundproblem.

Aus medizinischer Sicht bleibt das Thema Übergewicht ein problematisches.

Ich habe das Glück, kerngesund zu sein. Ich kümmere mich sehr um mich, ernähre mich gut, mache viel Sport. Natürlich kann Übergewicht ein gesundheitliches Problem sein. Aber wenn, dann ist es mein Problem. Ich für meinen Teil möchte weiter abnehmen, um Langzeitschäden zu vermeiden. Es geht nicht darum, dass Dicksein das bessere Schlanksein ist, das ist Schwachsinn.

Warum kämpfen Frauen so oft mit ihren eigenen Ansprüchen, Männer eher selten?

Männer werden zu Königen erzogen, Frauen zu Prinzessinnen. Männer empfinden vieles auch anders. Mein Running Gag auf der Bühne ist, dass Frauen ständig sagen, sie hätten hässliche Knie. Fragen Sie mal einen Mann, wie er seine Knie findet. Der wird sagen: "Ach, die Teile sind ganz praktisch, damit kann ich meine Beine knicken." Wir Frauen werden stark auf das Äußere reduziert, reduzieren uns auch selber darauf. Es geht nicht darum, bin ich intelligent, eloquent oder witzig, sondern in meinem Fall einfach nur: Sie ist halt dick.

Auf Instagram ist Perfektion an der Tagesordnung. Bereitet Ihnen das Kopfzerbrechen?

Die Anzahl der essgestörten Jugendlichen war noch nie so hoch wie heute. Das Problem ist, dass wir mit Essstörungen erst dann vernünftig umgehen, wenn jemand mit dem Schlauch in der Nase zwangsernährt wird. Solange es um Selbstoptimierung geht, erfährt man Anerkennung. Dass die Frauen hinter den Instagram-Bildern Leitbilder für junge Menschen sind, halte ich für fatal.

Was wünschen Sie sich?

Mehr Menschen, die aussehen wie Menschen. Man darf das "Unvollkommene" ruhig in den Vordergrund stellen. Für mich war es befreiend, zu sagen: "Mein Haar ist kaputt, also trage ich eine Perücke. Es ist o. k., man darf das sehen." Dieses Gefühl sollten wir auf alle körperlichen Attribute umlegen.

Welches Vorurteil über Dicke würden Sie gerne widerlegen?

Dass sie faul sind. Die meisten Dicken, die ich kenne, kämpfen ihr ganzes Leben um Akzeptanz. Fast alle versuchen, abzunehmen. Jede Frage nach einem Keks ist eine Belastung. Solange man glaubt, Übergewichtige brauchen noch mehr Druck um abzunehmen, wird nichts passieren.

Darf man Witze über dicke Menschen machen?

Ja, denn Humor ist eine Form von Annäherung. Was man nicht darf, ist Menschen zu verletzen und sich über sie zu erheben. Ich denke mir immer: "Was ist, wenn ich dir deine Schwächen an den Kopf werfe?" Wenn jeder vorher darüber nachdenkt, was er selbst nicht hören möchte, hätten wir wesentlich weniger Probleme.

Nicole Jäger: Ein Hoch auf das Unvollkommene
Nicole Jäger Nicht direkt perfekt

Nicole Jäger: „Nicht direkt perfekt – die nackte Wahrheit übers Frausein“ ab Freitag im Handel. Rowohlt. 288 Seiten. 15,50 Euro.

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