Mit Poesie Menschen wachrütteln

Mit Poesie Menschen wachrütteln
Tiefgründige Worte, schnell gesprochen: Der Auftritt einer Studentin begeistert im Internet

Eine blonde junge Frau stellt sich vor das Mikrofon. Der Hörsaal der Uni Bielefeld ist bei der Poetry Slam-Veranstaltung – einem Dichterwettbewerb – bis zum letzten Platz gefüllt. Ihre Stirn glänzt. Ein leichtes Lächeln kommt ihr über die Lippen. Mit leiser Stimme stellt sie sich vor. Ihr Name ist Julia, sie studiert Psychologie. Dann beginnt sie ihren Text vorzutragen.

Julia bezieht sich auf den Refrain des Liedes „One Day/Reckoning Song“ von Asaf Avidan: „Eines Tages, Baby, werden wir alt sein, oh Baby, werden wir alt sein, und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.“ Und setzt mit eigenen Gedanken fort: „Ich würd’ gern so vieles tun, meine Liste ist so lang, aber ich werd’ eh nie alles schaffen, also fang ich gar nicht an.“ Julia spricht die Lethargie und Nullbock-Attitüde an, die ihrer Generation zugeschrieben wird. Und trifft einen Nerv. Innerhalb der vergangenen Tage wurde das erst jetzt aufgetauchte Video ihres Auftritts vom Mai rund 2,5 Millionen Mal auf YouTube angeklickt. Und wird heftig geteilt und geliked. Angelika etwa kommentiert im Netz das Video so: „Es hat mein Herz berührt, weil es so wahr ist. Vieles haben wir wirklich gemacht, doch zu vieles nicht.“ Und ein gewisser Ben schreibt: „Sprachlos. Gänsehaut. Ich bin begeistert – und würde gerne diesem Mädchen, das dort vorne meine Gedanken liest, einen Heiratsantrag machen.“

Bühnenmomente

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Auch Doris Mitterbacher alias Mieze Medusa gefällt Julias Text. Sie gehört zu den Größen der österreichischen Hip-Hop- und Poetry-Slam-Szene und organisiert monatliche Slams (Bewerbe) in Wien sowie Workshops.

Mieze Medusa fasst das Prinzip des Poetry Slam zusammen: „Man geht mit selbstgeschriebenen Texten auf die Bühne und stellt sich dem Publikum. Das Publikum bewertet, wobei das nicht fair sein kann, weil sich die verschiedenen Texte nicht vergleichen lassen. Es geht mehr darum, dass das Publikum mitfeiert und etwas zurückgibt.“ Der schönste Moment, sagt sie, ist, „wenn du auf der Bühne stehst und siehst, wie sich die Gesichter entspannen, wenn du merkst, dass das Publikum bei dir ist und nicht mehr an die Einkaufsliste denkt. Sie verlieren sich in dem, was du präsentierst.“

Die Themen der Texte sind so vielfältig wie die Menschen, die auf der Bühne stehen. Mit Zeilen wie „Mein Leben ist ein Wartezimmer, niemand ruft mich auf. Mein Dopamin, das spar ich immer, falls ich’s noch mal brauch“ wählte die junge Poetry-Slammerin aus Bielefeld ein Generationenthema.

Glaubwürdigkeit

So heftig die Begeisterungsstürme darüber sind, so laut werden auch die Stimmen der Kritiker, die sich über die junge Poetin mokieren. Die 21-jährige Julia heißt mit Nachnamen Engelmann und ist keine Unbekannte. Sie schauspielerte einige Jahre am Theater Bremen und spielte bis Oktober 2012 in der RTL-Serie „Alles was zählt“ mit. Zudem hat sie bereits diverse Poetry-Slam-Wettbewerbe gewonnen. Mieze Medusa versteht die Aufregung nicht. „Man ist einem Musiker auch nicht böse, weil er ein Instrument gelernt hat. Ich finde es okay, wenn jemand Schauspiel- oder Bühnenerfahrung hat.“ Sie begründet dies damit, dass sich die Poetry-Slam-Szene in Deutschland professionalisiert hat. „Es geht auch darum, ein Handwerk zu erlernen, wie man eine gewisse Art von Bühnensituation inszeniert, den Text schreibt und eine Figur entwickelt. Poetry Slam ist eine Einladung, Texte so zu schreiben, dass sich Menschen wiederfinden. Ob es gelingt, erfährt man durch das direkte Feedback. Das Publikum bewertet die Glaubwürdigkeit.“ Ob Julia Engelmanns Auftritt das Ergebnis ihres Schauspieltrainings ist, sei dahin­gestellt. Mit ihrem verlegenen Lächeln, ihren fahrigen Handbewegungen und kraftvollen Aussagen hat sie es auf jeden Fall geschafft, viele Menschen zu berühren.

Poetry Slam („Poetry“ steht für Poesie, „Slam“ für Turnier) ist ein Wettbewerb, bei dem selbstgeschriebene Texte von Einzelpersonen oder Teams in einem Zeitabschnitt vor Publikum vorgetragen werden. Die Zuseher küren auch den Sieger. Erlaubt sind alle literarischen Genres. Als Begründer des Poetry Slams gilt der Amerikaner Marc Kelly Smith. 1986 veranstaltete er mit Gleichgesinnten in Chicago die erste derartige Veranstaltung. Mittlerweile finden Poetry Slams in 500 Städten statt. In Österreich organisiert die Autorin und Musikerin Doris Mitterbacher (Mieze Medusa) monatlich Slams – zum Beispiel heute, Mittwoch. Mehr gibt es unter Termine: www.textstrom.at Jeden dritten Donnerstag im Monat lädt sie gemeinsam mit Yasmin Hafdeh zum "Sturm auf den Hundsturm" (www.hundsturm.org). Dort messen sich vier ausgewählte Poetry SlammerInnen aus Österreich mit einem internationalen Gast.

Mit 17 sah Sam aus wie ein alter Mann. Schuld daran war eine seltene Erbkrankheit, Progerie, deren auffälligstes Merkmal die vorzeitige Alterung der Betroffenen ist. Sam war 22 Monate alt, als Ärzte den Gendefekt feststellten. Lebenserwartung: durchschnittlich zwölf Jahre.

Doch diese Diagnose war für den Sohn zweier Ärzte noch lange kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. Sam wuchs zu einem lebensfrohen Jugendlichen heran, hatte Freunde, las gern Comics, mochte Eishockey und Musik. Und wurde mit 17 Jahren zu einem Internet-Star.

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„Meine Philosophie für ein glückliches Leben“ nannte Sam seinen Vortrag, den er 2013 hielt und den auf YouTube mittlerweile mehr als 1,6 Millionen Menschen gesehen haben. Viele davon hatten wahrscheinlich Tränen in den Augen, als sie Sams drei Grundsätze für ein glückliches Leben hörten. „Finde dich ab mit dem, was du nicht kannst, weil es so viel anderes gibt, was du tun kannst“, lautete der erste. Sam würde seine Krankheit nicht ignorieren, aber sich auf das konzentrieren, was Spaß macht. Bei seinem zweiten Rat – „Umgib dich mit Leuten, mit denen du gerne zusammen bist“ – kämpfte Sam selbst mit den Tränen. Man ahnt, wie wichtig ihm Familie und Freunde waren.

Als dritten Leitsatz verwendet Sam ein Zitat von Walt Disney: „Schau nicht zurück, sondern nach vorn.“ Er versuchte immer, sich auf etwas zu freuen, „sei es ein Familienurlaub oder ein neuer Comic-Band.“ Oder sein Schulball: „Verpasst nie eine Party“, riet Sam am Ende des Vortrags dem Publikum. „Morgen ist unser Ball, und ich werde da sein!". Sam war da. Es war eine seiner letzten Partys. Vor einer Woche, drei Monate nach dem Ball, starb er im Alter von 17 Jahren.

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