"Das Patriarchat ist nach hinten losgegangen"

Neue Männerwelt: Viele Vertreter des "starken Geschlechts" fühlen sich orientierungslos.
Bewusste und präsente Maskulinität ohne Machtgeilheit kann viel Positives bewegen, sagt Männercoach John Aigner.

Das Bild vom Mann hat sich drastisch verändert, – so viel ist klar. Kerle vom diffusen Typus „neuer Mann“ sind jetzt gefragt. Doch was soll der können? Und was konkret macht ihn aus? Das zu beantworten, fällt auch Männern nach wie vor schwer. Zerrissen zwischen dem traditionellen Rollenbild des machtvollen Versorgers und dem Ideal des fürsorglichen, empathischen Mannes, sind viele auf der Suche. In Berlin findet im Juni zum fünften Mal die „Konferenz zur Männlichkeit“ statt. Zwei Tage lang sprechen Männer für Männer – weil es „positive und konstruktive Räume zum Austauschen und Lernen braucht, damit sich Männer weiterentwickeln können“, heißt es auf der Homepage von „MALEvolution“, einem Team aus Männern, das auf „Gemeinschaft unter Männern“ setzt und Weiterbildung zum Thema „Mannsein im 21. Jahrhundert“ anbietet. John Aigner, Männercoach und Veranstalter dieser Konferenz erzählt, was den viel zitierten „neuen Mann“ aus seiner Sicht ausmacht.

"Das Patriarchat ist nach hinten losgegangen"
John Aigner

KURIER: Warum braucht es eine eigene Konferenz zum Thema "Mann sein"?

John Aigner: Weil sich die Welt, in der Männer leben, verändert und sich die Gesellschaft gewandelt hat. Die Ursprungsidee für diese Konferenz entstand bei einem Selbsterfahrungscamp für Männer. Dort machten wir die Erfahrung einer ganz anderen Art von männlicher Gemeinschaft. Wir erlebten, was passiert, wenn sich Männer zusammentun und einander bewusst, authentisch und verletzlich begegnen. Ganz ohne Konkurrenzkampf und Schwanzvergleich. Wir merkten, da entsteht eine Qualität, die uns zutiefst guttut, als Basis für Selbstvertrauen, Urvertrauen und Identität. Wir bekamen einen Bezugspunkt, einen konstruktiven, auch kritischen Spiegel. Ich glaube, ein neues, bewusstes Mannsein tut nicht nur uns Männern gut, sondern stärkt auch die Gesellschaft als Ganzes.

Was hat Männer daran gehindert, sich mit sich selbst auseinander zu setzen? Was hindert sie noch?

Ich glaube, das Patriarchat ist heftig nach hinten losgegangen und hat Männer selbst zu seinen Verlierern gemacht. Viele dieser alten Muster sind immer noch sehr präsent. Es heißt dann z. B. "als Mann darf ich mich nicht verletzlich zeigen, weil das Schwäche bedeutet" – und Weiblichkeit. Diese Ablehnung des Femininen und die Angst davor ist Teil dessen, was so viel Unsinn hervorbrachte und bringt. Bewusste, präsente Maskulinität, die ganzheitlich und ohne Machtgeilheit gelebt wird, kann viel Positives bewegen.

Viele erleben das als Umbruch und fühlen sich orientierungslos.

Es ist ein Umbruch, richtig. Ein fortlaufender Prozess, der organisch in der Gesellschaft passiert. Vieles an typisch männlichem Verhalten wird dabei neu eingeordnet, auch von Frauen ausgeübt etc.. Gleichzeitig beobachtet man vielerorts, wie sehr die klassischen Geschlechterrollen noch gelebt werden und trotz gesetzlicher Gleichstellung weiterhin von vielen Familien aufrechterhalten werden. Wir befinden uns in einer Art Hybridstadium. Das verwirrt Manche, wirft Fragen auf. Das gilt nicht nur für Männer, sondern für die Gesellschaft an sich. Ich denke, es geht um ein neues Bewusstsein und einen fruchtbaren und besonnenen Umgang mit diesem organischen Prozess.

Welche Rolle spielt Mentoring?

Mentorenschaft ist sehr wichtig. Insbesondere bei Männern wird sie derzeit gesellschaftlich nicht mehr automatisch bereitgestellt. Es gibt bei den meisten Männern so etwas wie eine männliche Identität, eine ur-instinktliche Ebene, wo ein Mann zu einem anderen Mann einen besonderen Bezug herstellt, weil er ihm ein Vorbild und Spiegel ist. Das ist auch, was eine gute Vaterfigur ausmacht. Durch Umwälzungen, wie früher Kriege und heutzutage hohe Scheidungsraten, alleinerziehende Mütter etc., erleben wir mittlerweile die dritte Generation, wo viele Jungen ohne präsente Väter aufwachsen. Gepaart mit einem gescheiterten Patriarchat und der Reizüberflutung einer digitalisierten Konsumgesellschaft hat das zu einer regelrechten Identitätskrise bei vielen Männer geführt. Positive männliche Mentoren werden dringend gebraucht.

Die Ansprüche an Männer sind komplex – zwischen Teufelskerl und Typ mit Heiligenschein.

Richtig, da geht es Frauen nicht anders. Nehmen wir das Bild der Superfrau, die Kind und Karriere unter einen Hut bringen sollte, sonst ist sie das rückwärtsgewandte Heimchen am Herd. Oder die Hosenanzugkarrierefrau, die angeblich keine Gefühle mehr zeigen kann. Überall gibt es solche Klischees. Und da ist bei Männern dann die "Eier legende Wollmilchsau" gefordert. Es stimmt, dass wir in der heutigen Welt mehr Bandbreite und Bewusstsein brauchen, dass Flexibilität ein wichtiges Werkzeug ist und alte, eingefrorene Rollen nicht mehr stimmen. Doch ich halte nichts von dogmatischen Forderungen à la "So müssen wir jetzt alle sein, sonst sind wir nicht gut genug und wahlweise Luschen, Machos, Softies oder Täter." Das sind für mich medial suggerierte Zwangsmaßnahmen. Eine Art schräges, neues Leistungsdenken, das zu eher zu Verwirrung, Resignation und emotionalem Burnout führt als zu einem liebevollen Geschlechterverhältnis auf Augenhöhe.

Was kann der "neue Mann"?

Es ist der, der präsent und bewusst ist und mitbekommt, was los ist. Er weiß, wer er ist, kennt seine Verantwortung und wird ihr gerecht. Er ist so frei und mutig, dass er sich in seiner ganzen emotionalen Bandbreite zeigen kann, aber nicht muss- und darin seine Stärke sieht. Er ist jener, der die Räume hält, für seine Familie, in seiner Beziehung, in der Gesellschaft. Er übernimmt freiwillig Verantwortung und findet darin seine Berufung.

Wie sollten wir unsere Söhne erziehen, dass sie so ein Mann werden?

Wenn man selbst bewusster und präsenter wird, kriegt man auch mit, was ein Kind braucht. Sollte das ein männliches Kind sein, mischt die Tatsache, dass es Hoden hat, hormonell mit. Das männliche Menschlein verhält sich anders als das weibliche Menschlein. Nicht in jedem Fall, aber tendenziell. Das macht etwas aus – dem muss Rechnung getragen werden. Dass etwa der Bewegungsdrang eines Jungen jenen Raum bekommt, den er braucht. Und dass er dadurch nicht "schlechter" oder "ungezogener" ist. Man sollte diese Wildheit als Kraft erkennen, die vor allem eine kreative Kraft ist und nicht etwas, wogegen der Arzt Ritalin verschreibt.

Wie empfinden Sie als Mann die #Metoo-Bewegung?

Ich finde sie großartig, weil sich da zunächst Schmerz aus der Scham befreit und sich zeigt. Das ist wichtig und richtig. Die spannende Frage ist, was nach diesem Befreiungsschlag kommt. Ein fälschlich vereinfachtes Opfer-Täter-Modell hilft langfristig niemandem weiter. Zum Glück wird die Diskussion gerade differenzierter. So konnte man in einer großen englischen Tageszeitung von Männern lesen, die von Frauen vergewaltigt worden sind. Auch das wird durch #metoo möglich. Ich finde auch gut, dass sich Frauen wie Catherine Deneuve zu Wort melden, und sagen, ich will auch noch begehrt und verführt werden dürfen, wenn ich das will. Es sich nicht nehmen lassen, frei und sexy zu sein und sich begehrenswert zu machen, für sich und die Männer. Auch das ist von der Frauenbewegung erkämpft worden. Ich hoffe, dass #metoo eine Riesenchance, eine Zäsur, eine Weichenstellung für das Geschlechterverhältnis wird.

Wie sieht da Ihr Idealbild aus?

Bewusste Männer und Frauen auf Augenhöhe. Männer, die zunehmend mitkriegen, was genommen werden möchte und was nicht – und dieses Bewusstsein auch von anderen Männern beigebracht bekommen. Ich wünsche mir Frauen, die viel früher lernen, selbstbewusst Nein zu sagen – und genauso selbstbestimmt Ja sagen können.

Kommentare