Ist es egal, gelebt zu haben?

Szenenfoto aus "Marie-Fragmente" im Theater Drachengasse
"Marie-Fragment" im Theater Drachengasse (Wien): Eine alte Frau blickt auf ihr Leben und den Tod ihrer jungen Tochter zurück.

Sehr gebeugt mit fast waagrechtem Oberkörper tattert die „alte“ Frau durch die Publikumsreihen in Richtung Bühne. Wirklich alt ist sie nicht, das ist der Schauspielerin schon anzusehen. Aber in ihren Körperbewegungen und in der Mimik wirkt sie so. 85 ist sie hier. So ihr jemand aus dem Publikum helfen wird, landet sie dann auch auf der Bühne auf einem alten Lehnstuhl – zwischen doch recht geordnetem Chaos aus großen Kartons, einem leeren Vogelkäfig, einem kleinen alten Fernseh- und einem ziemlich neuen Radiogerät mit CD-Player. Und über allem thront das gemalte Bild eines Mannes. Diese strukturierte Messi-Landschaft wird umgrenzt von einem breiten Bogen von Herbstlaub. Jenseits dessen hängt ein ziemlich leeres, weißes Blatt Papier in einem Bilderrahmen.

Vor laaaaaaaanger Zeit

Alles „läuft“ sehr langsam ab. Die Alte kramt eine mit bunten Schmetterlingen bedruckte Schachtel hervor und fördert eine blondhaarige Puppe sowie eine CD, auf deren Cover ein Herz aufgemalt ist und der Schriftzug Marie. Rap-Rhymes von einem gef... Leben ertönen. Das Stück ist rund ¼-Stunde alt, das beginnt die alte Frau zu reden. Schleppend erinnert sie sich an Marie, ihre Tochter. Die ist vor laaaaaanger Zeit verstorben – an Anorexie, hat sich zu Tode gehungert. Das war – so scheint es – bis jetzt ein bestens gehütetes Geheimnis. Darüber hat sie nicht geredet, vielleicht selber nicht einmal eingestandenermaßen darüber nachgedacht. Daran scheint die alte, immer eigentlich auch namenlose Frau mehr oder minder seelisch verhungert zu sein. Verkümmert. Vertrocknet.

War da was?

Ist es egal, gelebt zu haben?
Szenenfoto aus "Marie-Fragmente" im Theater Drachengasse (Wien)
Nun, vielleicht erst knapp vor dem eigenen Tod, sinniert sie darüber – und vor allem um die Frage des „warum?“. Hatte sie je wirklich Zugang zu Marie, eine wirkliche emotionale Verbindung mit ihrer Tochter. Oder mit überhaupt jemandem. Rückblickend hat sie immer funktioniert, alle Aufgaben erfüllt, aber als Gefühl kennt sie nur Angst. Angst, etwas falsch zu machen, Angst, Angst, Angst... – und auch die erzählt sie „nur“, selbst die wird nicht so wirklich spürbar. Tattrig aber geistig hellwach analysiert die Frau ihr Leben und dessen härtesten Schicksalsschlag. Ein Zitat aus dem Stück: „Der Kerze ist es am Ende auch egal, ob sie erlischt, wenn der Docht bis auf den Grund abgebrannt ist.“

In einem Traum erscheint die Tochter – dann als zweite Schauspielerin auf der Bühne. Als würde sie nach ihrem Tod über ihrer beider Leben resümieren, das mehr ein Aneinander-vorbei denn ein Zusammenleben gewesen sein muss. „Es hat nicht geklappt, einen Ruf des Lebens hab ich nie erhalten!“

Ist es egal, gelebt zu haben?
Szenenfoto aus "Marie-Fragmente" im Theater Drachengasse
Marie-Fragment
Gastspiel von Terraforming Arts Laboratorium (T.A.L.)
im Theater Drachengasse, Bar&Co

Text: Aristoteles Chaitidis
Regie: Steve Schmidt
2. Regie: Olivia Rosenberger
Es spielen: Aleksandra Ćorović, Constanze Winkler

Bis 3. Dezember 2016
Theater Drachengasse, Bar&Co
1010, Fleischmarkt 22/Drachengasse
Telefon: (01) 513 14 44
www.drachengasse.at

Terraforming Arts Laboratorium
Terraforming Arts Laboratorium (T.A.L.) wurde 2016 von der Schauspielerin Aleksandra Ćorović und dem Regisseur Steve Schmidt gegründet und verfolgt das Ziel, durch die Verknüpfung von Lebens- und Wissensbereichen schöpferische Prozesse freizusetzen. So macht die Kommunikation zwischen Kunst, Politik, Wissenschaft und Zeitgeschehen Kreativität zur Vernetzungsarbeit. Die Synergien, die durch die Verwebung unterschiedlicher Auffassungen und Anschauungen entstehen, bilden für T.A.L. die treibende Kraft, um Visionen zu formulieren und diese als Leitmotive performativ umzusetzen.
www.terraforming-arts.com

Kommentare