Scherenschnitte helfen auch nix

Szenenfoto aus "Zucker Büstenhalter"
„Zucker Büstenhalter“ – sehr witzige bitterböse Gesellschaftssatire über Turbokapitalismus und dessen politische Steigbügelhalter (nicht nur) in Polen..

Schräge Figuren in einer passenden Szenerie, die immer wieder verrückt anmutet – und doch wirft sie „nur“ Schlaglichter auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Realitäten. Zum Erschrecken. Nicht nur in Polen wo „Zucker Büstenhalter“ des Kulturvereins „migrationshintergrund.am.arsch“ im Wiener OFF-Theater spielt.

Weiß-rot und rot-weiß-rot

Das satirische Stück sorgt durch das präzise, komödiantische Schauspiel der Darstellerinnen über Wortwitze und Situationskomik, teils mit Show-Passagen samt Songs, immer wieder für viele, sehr herzhafte Lacher – auch wenn diese nicht selten sozusagen im Halse stecken bleiben, insbesondere dann, wenn die sich aufdrängenden Parallelen von rechter polnischer Politik zum Land in rot-weiß-rot (nur ein roter Streifen oben mehr als die Flagge Polens) gezogen werden – von der PiS und den Kaczynskis und deren strammen Rechtskurs mit autoritären Zügen zu der bevorstehenden Schrumsti-Bumsti-Koalition hierzulande.

100 Jahre und vor dem Bankrott

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Szenenfoto aus "Zucker Büstenhalter"
Die Grundgeschichte: Die BH- und Korsett-Manufaktur der Geschwister David (Constanze Passin) und Mira (Suse Lichtenberger) Zucker steht vor ihrem 100. Geburtstag – und gleichzeitig mehr oder minder vor dem Konkurs. Schuld ist die Globalisierung des Kapitalismus und der Import der Billigstware aus China. Mira betätigt sich – „bewaffnet“ mit einer kleinen Schere – als handfeste Kämpferin gegen die Konkurrenz, die Brücke zu China wird mehrmals durch einen chinesischen Mundharmonikaspieler (Katarzyna Radochońska, die auch einen Flüchtling spielt) hergestellt. Eine Blinde (Julia Schranz) will sich einfach keinen BH aufschwätzen lassen und der liebenswerte Streuner in "Stadtindianer"-Manier (Claudia Kottal) stellt so ziemlich alles in Frage.

Anna Krammer – gemeinsam mit Kottal Gründerin des Vereins maa – agiert als „Kapofurie“ immer wieder tiefgründig philosophisch, wenn sie beispielsweise sagt: „In reichen Ländern ist es anders als im Leben. Alles ist schön…“ und dennoch Menschen von (malerischen) Brücken springen oder sich an Tauen der eigenen Segelboote erhängen.

„Ost“algie mit Lücken

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Szenenfoto aus "Zucker Büstenhalter"
Und dennoch sind sie noch besser dran, als die Opfer des Turbokapitalismus, weshalb manche derer Anflüge von dem haben, was gemeinhin „Ostalgie“ genannt wird. Da war doch was mit ein bissl von mehr Gerechtigkeit und so. Andererseits konnte sich schon glücklich schätzen, wer in der Mangelwirtschaft des surrealen Sozialismus einige Klopapierrollen erstehen konnte. Außerdem ist das schon so weit weg, dass auf dem Wendebild mit Jesus einerseits und Lenin andererseits letzterer für Karl Marx gehalten wird.

Eher unausgesprochen, aber spürbar schwingt in der langen, aber kurzweiligen Aufführung eine Hoffnung mit, die der Kulturverein für sich als Maxime nennt und sich - als Zitat – bei István Örkény ausgeborgt hat (Autor des ersten Stücks, das maa zu einer Premiere im deutschsprachigen Raum verholfen hat, „Familie Tót“): „Es wäre schön, wenn wir nicht mehr in Angst lebten.“

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Szenenfoto aus "Zucker Büstenhalter"
Zucker Büstenhalter
von Zyta Rudzka
Übersetzung ins Deutsche: Andreas Volk,
MAA*/OFF-Theater Wien

Konzept/Regie/Musik: Imre Lichtenberger Bozoki
Es spielen:
Die Blinde: Julia Schranz
David Zucker: Constanze Passin
Mira Zucker: Suse Lichtenberger
Streuner: Claudia Kottal
Kapofurie: Anna Kramer
Flüchtling/chinesischer Mundharmonikaspieler: Katarzyna Radochońska

Bühne/Video: Alek Kawka, Martin Nußbaum
Video/Musik: Moritz Wallmüller
Kostüme: Elisabeth Veit
Choreografie: Martina De Dominicis
Dramaturgie: Stephanie Schreiter
Dramaturgie/Assistenz: Lisa Niederwimmer

Rechte beim Kaiser Verlag

* migrationshintergrund.am.arsch

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Szenenfoto aus "Zucker Büstenhalter"
Wann & wo?
Bis 26. November 2017 sowie 10. - 13. Jänner 2018; jeweils 19.30 Uhr
OFF-Theater, 1070, Kirchengasse 41
Karten: Telefon: 0677/ 621 24 322
eMail:karten@maa.co.at
www.maa.co.at

Der gemeinnützige Kulturverein MAA*, gegründet im Juni 2015 von Anna Kramer und Claudia Kottal, widmet sich der Förderung und Verbreitung von bislang in Österreich unbekanntem, internationalen Kulturgut vor allem aus dem „Osten“, sowie dem interkulturellen Austausch.

Der Vereinsname ist bewusst ironisch gesetzt. Der Begriff „Migrationshintergrund“ ist heutzutage eine Art Modeerscheinung: Er ist in aller Munde, es scheint essentiell zu bestimmen, wer einen hat und wer nicht, und vor allem im Kulturbereich hat man es sich zur Aufgabe gemacht, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Dabei beinhaltet die vermeintlich politisch korrekte Bezeichnung an sich bereits eine Ausgrenzung.

Laut einer 2014 durchgeführten Studie der Stadt Wien haben 49 Prozent aller Wiener einen „Migrationshintergrund“. Wo fängt er an, wann hört er auf, ist er nun schlecht oder gut und wofür brauchen wir ihn überhaupt?

Nix Neues erzählen wir hier, wenn wir meinen, dass jeder seine Andersartigkeit und die seiner Mitmenschen als Reichtum betrachten und was er zu geben hat mit seiner Umwelt teilen möge. Doch scheint die Umsetzung manchmal so schwer... Wir wollen‘s versuchen, auch wenn im Versuch bereits das Scheitern enthalten ist, denn wer nicht wagt, der nicht gewinnt, zumindest wohnt doch jedem Anfang ein Zauber inne...

...in diesem Sinne: (um es in den Worten von István Örkény, Autor von "Familie Tót", das erste Stück, das maa zur deutschsprachigen Erstaufführung brachte): „Es wäre schön, wenn wir nicht mehr in Angst lebten.“

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