Mehrsprachig statt sprachlos

Gruppenfoto vor dem Eingang mit viel(sprachig)en Willkommens-Grüßen
Grenzüberschreitendes EU-Projekt fördert Mehrsprachigkeit in Kindergärten und Grundschulen in Wien, NÖ, OÖ, Burgenland, Tschechien, Ungarn und der Slowakei.

Welcome, Bienvenue, willkommen, Dobro Došli, Hoşgeldiniz ... und das in noch mindestens einem Dutzend weiterer Sprachen und obendrein verschiedenen Schriften. Bunte handschriftliche herzliche Begrüßungen finden sich auf der Glasfront des Kinderfreunde-Kindergartens in der Forsthausgasse (Wien-Brigittenau). Die Internationalität ist aber nicht nur Fassaden(schrift), sie wird hier im Alltag gelebt – und nun auch in einem EU-Projekt (Wien, Nieder-, Oberösterreich, Burgenland sowie Tschechien, Slowakei und Ungarn) besonders gefördert: Bildungskooperation in der Grenzregion (BIG).

Und so quasseln Noah, Tamina und Belinay in der Küche mit Mona während sie den Pizzateig belegen munter drauf los, sagen einander, was Mais in ihrer jeweiligen Sprache heißt – etwa Dora (Arabisch), mısır (Türkisch), Corn (Englisch). Käse kommt auch drauf und damit gäbna, peynir und cheese. Dann sind Medina, Ronja und Laeticia, später Esma, Elias, Nissa mit Hürdes bzw. Katarzyna dran und damit weitere Sprachen.

Sprachbegleiter_innen

Mehrsprachig statt sprachlos
Medina, Ronja und Laeticia belegen in der Küche eine Pizza...

Das Einbinden der Küche mit den Sprachen der dort tätigen Mitarbeiterinnen ist Teil des Konzepts des EU-Projekts. Nicht nur die Sprachbegleiter_innen sollen die Vielsprachigkeit fördern. Wenn eine Mitarbeiterin wie Hürdes in der Küche Türkisch oder Mona Arabisch kann, so ist genau das gewünscht. Das hat den bewussten Nebeneffekt, dass diese Person dann nicht nur Küchenhilfe ist, sondern zusätzlich ein Mensch, der eine Sprache beherrscht, die sogar für nicht wenige Kinder Familiensprache ist. Obendrein fühlen sich Eltern beim Bringen oder Abholen ihrer Kinder spürbar wohler, wenn sie den einen oder anderen Satz wechseln können in einer Sprache in der sie zu Hause sind.

Vor-, keine Nachteile

Andere Sprachen sind kein Manko, kein Defizit, kein Fehler, nichts was verheimlicht werden muss oder soll, sondern ganz im Gegenteil eben willkommen. Mehrsprachigkeit wird gefördert – nicht in kleinen Englisch-, Chinesisch oder was auch immer Lektionen wie da und dort andernorts. Hier werden die Sprachen, die Kinder UND Pädagog_innen, aber auch jede andere Mitarbeiterin/jeder andere Mitarbeiter mitbringen, eingebaut - in Spiele, Essenszubereitung in Kleingruppen in der Küche oder wo auch immer. So „nebenbei“, aber doch immer wieder ganz bewusst.

Sprachassistenz, Wissenschaft, Fortbildung

Mehrsprachig statt sprachlos
Jonathan, Gamze, Emmanuella und Medina tanzen mit Barnabas und Irèn Ringereihe und ...

Im Rahmen des Projekts in mehreren Bildungseinrichtungen wird das durch den Einsatz von insgesamt elf Sprachbegleiter_innen unterstützt und gefördert. Außerdem wird es wissenschaftlich begleitet, ebenso gibt es Fortbildungsveranstaltungen, Fachberatung und eigens entwickelter pädagogischer Begleitmaterialien.

Längst – aus der Praxis – bekannte, aber auch schon seit etlichen Jahren wissenschaftlich untermauerte Erkenntnisse, dass Kinder leicht und liebend gern Sprachen lernen, am besten dann, wenn sie sich wenigstens in einer sicher und wohl fühlen ist das Fundament für dieses Projekt, das über die Förderung der Mehrsprachigkeit das Deutsch-Lernen auch bei Kindern, deren Familiensprache eine andere ist, erleichtert und forciert.

Bei einem anderen Spiel wo’s ums Zählen geht, wird nicht nur die Zahlenreihe 1 bis 10 erlernt. Doroteja, Nethanael, Aleksandar, Louis, Yusuf, Filip, Eylül, Jamie, Nikola, Clarissa und Ilija mit Anna machen das auch noch in BKS (Bosnisch/Kroatisch/Serbisch/), Polnisch, Slowakisch, Litauisch und Türkisch. Ähnliches gilt für Farben in einer anderen Ecke des Kindergartens: Unter einem großen Papierherzen auf dem Bilder der Erdteile kleben wie auf einer Weltkarte benennen u.a. Lorenzo, Amelie und Arianna Farben mit Hilda auf Spanisch und Englisch. In einer anderen Gruppe geht’s gerade um die Teile des Gesichts. Da fällt zwischendurch neben Mund auch „usta“ (BKS) oder száj (Ungarisch).

Zusätzlich ehrenamtlicher Sprachbegleiter

Mehrsprachig statt sprachlos
In der Gruppe mit dem Sprachbegleiter Ali u.a. Viktoria, Khaleb, Jeremy, Mustafa und Samiya

Mustafa ist auf einmal gar nicht wieder zu erkennen. Zuvor war er als Prinzessin verkleidet durch den Kindergarten beinahe stolziert, nun spielt er ent-Kleid-et in seiner Jean, die er zuvor drunter anhatte, in der Gruppe mit Ali. Der Bursch, der vor rund zweieinhalb Jahren in Österreich Zuflucht gefunden hat, arbeitet seit Monaten als freiwilliger Helfer hier – und bringt neben viele Herzenswärme und Geduld u.a. seine Erstsprache Dari (die afghanische Version von Farsi/Persisch) mit ein. Viktoria, Jeremy, Yagiz, Nadina, Adrianna, Khaleb und Samiya switchen zwischen Deutsch, Englisch, Dari und noch einigen Sprachen, die sie mitbringen.

Gleich beim Eingang ist ein kleiner Indoor-Bewegungsbereich mit Fallmatten, Sprossenwand und großen Schaumgummi-Elementen wo Jonathan, Gamze, Emmanuella und Medina mit Barnabas und Irèn Ringelreihe spielen –und vor allem die Kinder sich liebend gern so schnell drehen, dass der Kreis zerreißt und sie sich auf die Matten fallen lassen können. Lukas, Zehra, Belinay und Noah wollen’s ruhiger, sie sitzen oder stehen an einem Tisch in ihrem Gruppenraum und nähen vorgezeichnete Linien auf Blättern mit Löchern mit bunten Fäden nach.

Die Leiterin dieses Kindergartens, Irèn (Komenda), ist Fachberaterin und Mehrsprachigkeitsexpertin im gesamten BIG-Projekt und bringt ihrerseits mit Ungarisch und Russisch selber noch zwei andere Sprachen mit. Maßgeblich an der Entwicklung des Konzepts dieses Projekts zur Förderung von Mehrsprachigkeit in Kindergärten und Grundschulen ist Karin (Steiner) von den Kinderfreunden.

Weitere Fotos aus diesem Kindergarten

Schauplatzwechsel in eine Schule

Mehrsprachig statt sprachlos
Gleich im Eingangsbereich der Schule steht ein bunter vielsprachig beschrifteter Turm

Europäische Volksschule Goldschlagstraße in Wien 15 (Rudolfsheim-Fünfhaus):„Um dois, três... bis dez“ tönt es hier – an der Tafel eine Flagge Brasiliens. Irma, Noah, Maria, Luisa, Anna, Sinem und die anderen Kinder – aus Volksschule und Kindergarten Hütteldorfer Straße schnuppern in Portugiesisch hinein. Regelmäßig gibt es hier seit Jahren Sprachen-Ateliers, in denen nicht nur Sprache, sondern auch Lieder, Tänze, Speisen, also Kultur vermittelt werden. Am Tag es Kinder-KURIER-Besuchs ist im Rahmen des oben genannten Projekts BIG wieder einmal der Kindergarten zu Besuch. Die Schulkinder schlüpfen dabei in die Rolle von Tutor_innen und sitzen den jüngeren Mädchen und Buben hilfreich zur Seite. Die Zahlen sitzen schnell. Jetzt kommen noch ein paar Wörter dran – unter anderem der bunte Vogel tucano/Tukan. Ein solcher kann auch auf einem Blatt Papier ausgemalt werden.

European Studies

Mehrsprachig statt sprachlos
Im Ungarisch-Atelier

Die Volksschulkinder sammeln die Zettel in eigenen Mappen, womit sie nach drei Jahren (die Ateliers beginnen in der zweiten Klasse) ein Nachschlagewerk für immerhin derzeit vermittelte 12 Sprachen und Kulturen haben. Die Ateliers sind Bestandteil der hier in der European Primary School/Europäische VolksSchule unterrichteten „European Studies“.

Nach der Portugiesisch-Einheit geht’s weiter zum Ungarisch-Kurs – da jeweils in Kleingruppen gearbeitet wird, sind andere Kinder sowohl der Volksschule als auch des Kindergartens in anderen Sprach-Ateliers. „Szia“ heißt‘s zur Begrüßung. Das sitzt sofort. Nicht viel länger dauert’s bis sich alle mit „vagyok“ (ich bin) gegenseitig vorstellen. Nun beginnen sie gemeinsam zu basteln – nach Origami-Methode einen Frosch aus buntem Papier. So „nebenbei“ lernen sie, dass bunt színesh heißt.

Die Sprach-Atelier-Leiter_innen sind Lehrer_innen der Schule und zusätzlich Freiwillige von außen. Jene Sprachen, die sie mitbringen, werden angeboten. „Wenn wir wen mit Chinesisch kriegen, bieten wir das auch an!“, so Doris, die Direktorin schon anlässlich eines Europa-Tags-Auftritts der Kinder beim Westbahnhof vor zwei Jahren zum Kinder-KURIER. Zu den Lehrkräften zählen natürlich nicht zuletzt auch jene, die Kinder in ihren mitgebrachten Erstsprachen unterrichten. Julia ist gar viersprachig unterwegs – neben Deutsch spricht sie Kurdisch (Kurmandschi), Arabisch und Ungarisch. Da steht ihr Marija mit Serbisch, Türkisch und Englisch – natürlich außer Deutsch – in Nichts nach. Und während sie das erzählt, kommen zwei weitere „Marias“ drauf, dass sie denselben Namen aber anders geschrieben haben – Marie bzw. Mariia.

Regelmäßige Begegnungen

Mehrsprachig statt sprachlos
Englisch spielt sich bewegt im Turnsaal ab

Die Volksschüler_innen besuchen einmal wöchentlich für jeweils eine Schulstunde ein Sprach-Atelier – sechs Wochen lang, dann wechseln sie in die nächste Sprache/Kultur. Die Kindergartenkinder kommen während des BIG-Projekts einmal in der Woche zu ihren „großen“ Kolleg_innen. An diesem Tag legen sie nach den beiden genannten Stationen eine Ess- und Trinkpause ein und dann geht’s in den Turnsaal. Bei Kreis- und Laufspielen stehen an diesem Tag Tiere in englischer Sprache auf dem Lehrplan. Die vier Ecken sind Duck, Pig, Cow und Cat zugeordnet. Immer wenn diese Begriffe für Ente, Schwein, Kuh und Katze gerufen werden, gilt es in die jeweilige Ecke zu laufen. Später gibt’s eine Art Tierstimmen-Memory mit diesen und noch ein paar anderen Tieren und zum Abschluss DEN Klassiker, das Lied vom alten MacDonald und seinem Bauernhof.

Das BIG-Projekt fördert aber nicht nur die Mehrsprachigkeit. Mit der Offenheit für andere Sprachen und Kulturen geht auch etwas einher, das oft zitiert, vielfach aber zur hohlen Phrase wird: Die Vermittlung von Werten wie gegenseitiger Respekt und Toleranz als Folge der Neugier für Fremdes.

Weitere Fotos aus der EVS Goldschlagstraße

Bildungskooperation in der Grenzregion (BIG)

Im Rahmen des Interreg-Programms der EU zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit läuft dieses Projekt zum Thema „Bildung und Mehrsprachigkeit“. Mehrsprachige Bildungsangebote in den an dem Projekt beteiligten Kindergärten und Schule sollen verbessert und die Qualität der sprachlichen Anregung erhöht werden. Augenmerk legt das Projekt auch darauf, dass Eltern der sprachlichen Entwicklung ihrer Kinder mehr Aufmerksamkeit schenken – immer auch ausgehend von deren eigenen Sprachen – statt gebrochenes Deutsch zu vermitteln oder gar zu verstummen, weil sie meinen, nicht ausreichend Deutsch zu können.

Projektziele

* Mehrsprachigkeit als Bildungsziel in den beteiligten Kindergärten und Schulen etablieren * sprachliche Anregungsqualität steigern * PädagogInnen dabei unterstützen, der Herausforderung des Umgangs mit sprachlicher Heterogenität in den Gruppen durch eine fachlich fundierte wie systematisch entwickelte Didaktik zu begegnen * Verbindung zwischen Mehrsprachigkeitsförderung und Förderung von bildungssprachlichen Fähigkeiten praktisch zu entwickeln und theoretisch zu fundieren

Grenzüberschreitend

Bei BIG arbeiten Bildungseinrichtungen aus Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Österreich zusammen. Hierzulande sind die Bundesländer Wien, Nieder-, Oberösterreich und Burgenland beteiligt und zwar Kindergärten, Volksschulen sowie Ausbildungsstätten für Pädagog_innen dieser Bildungseinrichtungen.

Projektpartner in Österreich ... sind die Abteilung Kindergärten sowie Regional GmbH in Nieder-, das Amt der Landesregierung in Oberösterreich, jenes im Burgenland - in enger Kooperation mit dem Landesschulrat, das Europa Büro im Wiener Stadtschulrat, die Wiener Kinderfreunde sowie Bildungs- und universitäre Einrichtungen in Tschechien, Ungarn und der Slowakei.

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