Jeder lernt und denkt ein wenig anders

Jedes Kind hat seine Stärken. Aufgabe der Schule ist es, diese zu erkennen und zu fördern.
Bildungsjournalist Reinhard Kahl kommt auf Einladung der Industriellenvereinigung nach Wien.

Die Potenziale jedes Kindes zu entdecken und zu fördern, muss das Ziel der Schule sein. Über den Weg dahin diskutieren Experten am Montag in der Industriellenvereinigung bei einer öffentlichen Veranstaltung. Deren Titel: Jedes Kind ist anders anders (s. unten). Neben vielen österreichischen Experten wird der bekannte Erziehungswissenschafter und Bildungsjournalist Reinhard Kahl aus Deutschland nach Wien reisen: „Vom Vorteil verschieden zu sein und zu kooperieren – Plädoyer für einen Kulturwandel in der Bildung“ heißt die Überschrift seiner Keynote, die er im Haus der Industrie halten wird. Der KURIER hat mit ihm vorab über die Rolle der Lehrer, über den Sinn des Übens und den Nutzen der Reformpädagogik geredet.

KURIER: Früher hat die Schule doch auch nicht geschadet. Diesen Satz hört man häufig.

Reinhard Kahl: Darauf sage ich: "Schreibt doch mal die wichtigsten Mathematikformeln auf." Dann fällt den meisten wenig ein, denn gewöhnlich wird in der Schule fertiges Wissen von oben nach unten abgeseilt und nach der Methode verfüttert: "Friss oder stirb." Viele Studien zeigen, wie katastrophal wenig vom Schulwissen bleibt. Belehrung führt eben nicht geradlinig zum Lernen. Lernen bedeutet nicht zu kopieren. Jeder lernt und denkt ein wenig anders. Deswegen ist eine vielfältige Umgebung so wichtig.

Jeder lernt und denkt ein wenig anders
Reinhard Kahl

Wie müsste sich dann die Rolle der Lehrer ändern?

Sie sollten Kinder nicht motivieren wollen, sondern selbst motiviert sein. Das reicht völlig. Zum Motivieren anderer hat Goethe das Entscheidende gesagt: "Man ahnt die Absicht und ist verstimmt." Wir haben in den Schulen ein enormes Übermaß dieser zudringlichen Absicht des Lehrkörpers, die den Lernkörper – die Schüler – nachhaltig verstimmt.

Und was macht dann den Lehrer der Zukunft aus?

Schüler brauchen Vorbilder. Aber das können nicht allein Lehrer sein. Künftige Lehrer sind auch Menschensammler. Sie holen interessante Erwachsene in die Schule, z. B. Mediziner, die über den menschlichen Körper mehr erzählen können als eine Unterrichtseinheit. Gute Lehrer sind auch Scouts, die mit Kindern aus dem Basislager Schule in die Welt hinausgehen, und nicht zuletzt sind sie Meister des Übens.

Ein Anhänger der Reformpädagogik lobt das Üben?

Ja. Das ist leider in Verruf geraten. Üben ist im Laufe des Industriezeitalters halbiert worden: Ursprünglich war es Wiederholen und Variieren und immer in der Nähe zum Aus-Üben. Geblieben ist bloßes Wiederholen. Dagegen sträuben sich gerade die Jugendlichen. Wir sollten das Üben wiederentdecken, indem wir es erweitern. Jeder übt auf seine Weise. Das ist ein Kern von Individualisierung. Jeder braucht dafür seinen besonderen Spielraum. Übrigens auch die Lehrkräfte. Sie sollten sich nicht mehr als Stoffvermittler verstehen. Ich finde sogar, sie sollten ein Gelübde ablegen, dass sie das Wort "Stoff" den Dealern überlassen und sich vom klein gemahlenen Schulstoff verabschieden. Der führt zum Bulimie-Lernen. Es geht um die Eigenart der Stoffe, Geschichten und vor allem der Menschen. Vielfalt ist das Motto für die Zukunft.

In der Praxis bedeutet Reformpädagogik oft, dass Schüler allein gelassen werden.

Leider. Dann sagen manche Lehrer: "Macht mal, ich geh’ solange einen Kaffee trinken." Es ist tatsächlich eine Berufskrankheit vieler Lehrer, nicht als selbstbewusste Erwachsene aufzutreten, sondern als Untermieter in der Welt, die sagen: "Diesen Stoff müssen wir durchnehmen." Wenn dann das Müssen aufgegeben wird, ist nicht mehr viel da. Lehrer sollten begeistern und anstecken, nicht nur sagen: "Das steht im Lehrplan" und alle spüren, es interessiert sie ja gar nicht. Welche Wirkung geht denn von solchen Lehrern aus? Im Laufe der Zeit wird die Schule und alles, was sie durchnimmt, den Schülern immer mehr egal. Darin sehe ich das Hauptproblem, dass Schulen und immer häufiger Unis Gleichgültigkeit bewirken.

Wie kann ein Kind seine Potenziale entdecken und fördern?

In der 5. Klasse AHS haben deutsche Schüler sage und schreibe 14 Fächer. Keiner kann zu all dem interessiert "Ja" sagen. Schüler sollten das Recht haben, "Nein" sagen können, sonst siegt der Bluff. Die grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Mathe entwickelt man am besten in der Praxis, also beim Aus-Üben. Lernen muss mit Tätigkeiten verbunden werden. Schüler brauchen Begegnungen, um ihre Fähigkeiten zu entdecken. Also raus in die Welt und sich dann im geschützten Raum der Schule auf ein paar Dinge wirklich konzentrieren. Allerdings wird eine Schule der Vielfalt und der starken Individuen nur gelingen, wenn sie auch Zugehörigkeit verspricht und Gemeinschaft schafft.

Individualisierung ist mehr als nur ein Schlagwort. Bei der Veranstaltung am 26. Mai im Haus der Industrie werden acht Projekte vorgestellt, die schon heute zeigen, wie es gehen kann.

COOL "Cooperatives offenes Lernen" ist eine Initiative, an der bereits mehr als hundert österreichische Schulen teilnehmen. Lehrer sehen sich als Coach der Schüler, die die Lernprozesse der Schüler individuell begleitet. Bis zu einem Drittel der Unterrichtszeit arbeiten die Schüler mit Arbeitsaufträgen.

IMST "Innovationen Machen Schulen Top" ist ein Unterstützungssystem. Ziel ist es, den Unterricht in den MINDT-Fächern Mathe, Informatik, Naturwissenschaft, Deutsch und Technik zu verbessern und attraktiv zu machen. Dazu werden Netzwerke auf regionaler Ebene sowie auf fachlicher gegründet.

Lernnetzwerk luX Es werden Technologien entwickelt, die Volksschüler beim Lernen unterstützen. Das Programm luX fördert vor allem die Sprachentwicklung entlang von Themen, für die sich ein Kind interessiert. Besonders geeignet für Kinder mit geringem Wortschatz.

Lernwerkstatt Brigittenau Individualisierung und Differenzierung in einem lernfreudigen und solidarischen Klima lautet das Motto der Schule in Wiens 20 Bezirk, die Kinder von der 1. bis zur 8. Schulstufe begleitet. Schüler lernen in stark heterogenisierten Gruppen.

Science Center Netzwerk Der Verein vermittelt – nicht nur – Schulen Erkenntnisse und Anleitungen, wie Schüler durch selbstständiges Ausprobieren und Experimentieren lernen. Die Angst vor naturwissenschaftlichen Fächern soll so den jungen Menschen genommen werden. Gleichzeitig werden Schüler zum selbstständigen Lernen angeregt.

Schule Klex ist eine öffentliche Ganztagsschule für 10- bis 14-Jährige, die ab Herbst auch eine Oberstufe haben wird. Statt fixen Stunden gibt es drei lange Lernphasen mit großzügigen Pausen. Das Raumkonzept wurde an reformpädagogische Bedürfnisse angepasst. Es soll selbstständiges Lernen fördern.

Technik entwickeln "design, architektur, technik – dat" nennt sich ein Wahlfach, das Werkunterricht bis zur Oberstufe attraktiv macht. Theorie und Praxis bedingen einander.

Sir Karl Popper Schule In der Wiener Schule für Hochbegabte will man die Potenziale der Schüler fördern, indem individuelle und personalisierte Lernwege beschritten werden. Die Schüler stehen im Mittelpunkt und bestimmen von Anfang an, welche besonderen Schwerpunkte sie setzen wollen. Ab der 6. Klasse gibt es ein modulares Kurssystem.

Veranstaltung

Jedes Kind ist anders: Individualisierung und Potenzialförderung im Unterricht der Zukunft. So lautet der Titel der Veranstaltung, zu der die Industriellenvereinigung einlädt. Zeit: Montag, 26. Mai, 17 bis 20.30 Uhr ein. Ort: Wien Schwarzenbergplatz 4, Anmeldung nötig: f.hladky@iv-net.at oder ☎ 01/71135 2231.

Programm: Nach der Key Note von Reinhard Kahl werden Projekte vorgestellt, die in Österreich bereits heute den Unterricht individualisieren (siehe oben) . Ab 19.15 Uhr diskutieren Bildungsministerin Gabriele Heinkisch-Hosek, Reinhard Kahl sowie Karin Exner-Währer (Vorstandsmitglied Salzburger Aluminium AG), Konrad Krainer, Andreas Schnider (IMST-Leiter Alpen-Adria-Universität Klagenfurt), Andreas Schnider (Pädagogische Hochschule des Bundes Wien, Vorsitzender des Qualitätssicherungsrates für Pädagogenbildung) Klaus Tasch, Direktor KLEX und NMS, BG und BRG Klusemannstraße Graz. Moderieren wird Martina Salomon, stellvertretende Chefredakteurin des KURIER.

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