Kinder erzählen von ihrer Flucht

Kinder erzählen von ihrer Flucht
Eine Wiener Lehrerin bat Schüler, aus ihrem Leben im Krieg und auf der Flucht zu erzählen.
Von Uwe Mauch

Suhana, ein 14-jähriges Mädchen, erzählt, dass sie Opernsängerin werden wollte und in Damaskus Gesangsstunden genommen hat. Zuletzt hatte sie zu Hause jedoch weniger Opernarien gehört als das Surren hin- und herfliegender Granaten.

Sie zischt mit ihrer Zunge und lässt dabei den Kopf hin- und herpendeln. Denn das Haus ihrer Eltern stand genau zwischen den Häusern, in denen sich die Soldaten der Regierung und die Soldaten der Rebellen verschanzt hatten. Suhana erinnert sich: "Ich habe die ganze Zeit gehofft, dass sie richtig zielen."

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Kinder erzählen von ihrer Flucht
Teach for Austria: Faiza Sadek-Stolz unterrichtet Flüchtlingskinder in Wien
Es ist eine Sprechstunde der etwas anderen Art: Ihre Lehrerin Faiza Sadek-Stolz (Bild) hat sie und ihre beiden Freundinnen gefragt, was sie den Österreichern von sich gerne erzählen möchten. Gut ausgebildete, weltoffene Menschen wie diese Lehrerin sind heute besonders gefragt. Die Tochter eines Ägypters und einer Österreicherin ist in Österreich aufgewachsen und hat nach der Matura fünf Jahre lang an einer US-Universität in Kairo Anthropologie und Umweltwissenschaften studiert. Seit ihrer Rückkehr nach Wien arbeitet sie als Lehrerin im Programm "Teach for Austria" (siehe unten), an einer Neuen Mittelschule im neunten Bezirk. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Arabischkenntnisse avancierte Sadek-Stolz schnell zur Vertrauten für die Flüchtlingskinder. Auch heute hört sie von den Kindern Berührendes.

Vom Balkon ihrer Wohnung musste Suhana beobachten, wie unten ein junger Mann mit einem Sprengstoffgürtel auftauchte und sich etwas in den Mund steckte. "Dann ist er um die Häuserecke gebogen. Nur wenig später habe ich eine laute Explosion gehört."

Mit dem Mobiltelefon hat das Mädchen ihr letztes Zeugnis in Syrien fotografiert. Sie war Vorzugsschülerin: lauter Einser. Ihre neue Lehrerin erzählt: "Sie hat sich am ersten Schultag bedankt, dass sie hier sein darf. Sie ist wissbegierig, sehr fleißig, sie nützt jede Gelegenheit, um etwas zu lernen." Ihre größte Angst: "Sie kann jederzeit nach Ungarn abgeschoben werden."

Stillstand des Herzens

Ihre Freundin Rasha, 12 Jahre alt, kann noch immer nicht glauben, dass sie auf Facebook ein zweites Mal arg bestraft wurde. Sie musste in diesem sozialen Netzwerk mitansehen, wie das Foto ihres ermordeten Cousins tagelang zirkulierte: "Ich weiß nicht, wer ihn fotografiert hat und wer das Foto ins Netz gestellt hat. Aber es wurde sehr oft geteilt." Nasrin, 13, ist indes mit ihrer Mutter von daheim fort, um ihren Brüdern und ihrem Vater nach Europa zu folgen. Während des Gesprächs zittern ihre Beine. Plötzlich beginnt das Mädchen bitterlich zu weinen. Was sie erlebt hat, ist schwer in Worte zu fassen: "Es war noch in der Türkei, da ist die Mama zusammengebrochen und nicht wieder aufgestanden." Stillstand des Herzens. Gestorben im Niemandsland. Rasha musste den Tod ihrer Mutter aus nächster Nähe mitansehen.

Ihre Aufregung wird nicht kleiner, als sie von ihren Todesängsten erzählt. Auf dem Weg durch dunkle Wälder, beim Anschleichen zum Versteck des Schlauchboots. "Es war eiskalt, und es waren viel zu viele Menschen in dem kleinen Boot. Ich habe mir gedacht, dass wir das niemals schaffen werden." In Griechenland hatte sie nur mehr Wasser und Brot für eine Woche. "Da habe ich mir gedacht: Das war’s dann." Auf die Frage ihrer Lehrerin, was sie macht, wenn sie traurig ist, sagt Nasrin: "Musik aufdrehen und tanzen."

Die drei Mädchen haben Schlimmes erlebt. Auch vor ihrer Schule explodierte eine Bombe und riss mehrere Mitschüler in den Tod. Sie sind sich darüber einig, dass das keine Soldaten waren, sondern Terroristen. Und sie legen Wert auf die Feststellung, dass sie selbst keine Terroristen sind: "Vor den Terroristen sind wir doch weggelaufen. Deshalb sind wir doch hier."

Kinder erzählen von ihrer Flucht
Kinderzeichnung Flüchtlinge Krieg
Dann sagt Nasrin einen bemerkenswert aufgeklärten Satz: "Ich kann schon verstehen, dass die Österreicher Angst vor uns haben, aber vielleicht werden sie mit der Zeit erkennen, dass auch wir anständige Menschen sind." Ihre Freundin Rasha hat ein Bild gemalt: Von dem toten Buben, den das Meer an die Küste der Insel Lesbos geschwemmt hat. Eine Tragödie, die sie bis heute beschäftigt.

Sardinen aus der Dose

Auf der Flucht aßen sie auch Verdorbenes. Und vor Sardinen aus der Dose rümpfen sie die Nase. Es waren zu viele Sardinen aus der Dose. "Sie haben noch so viel zu verarbeiten", sagt Faiza Sadek-Stolz, die inzwischen mit mehreren Flüchtlingskindern gesprochen hat. "Ihre schlimmen Erfahrungen haben die Kinder schnell erwachsen gemacht."

Dann erzählt sie von dem Buben, der mit seinem Bruder flüchtete: "Sein Vater ist tot, seine Mutter lebt noch in Afghanistan." Und sie erinnert sich an das Mädchen, das in den ersten Tagen so bedrückt war. "Ich habe sie gefragt, was los ist, da brach sie in Tränen aus und fiel mir um den Hals." Schnell brach es aus ihr heraus: "Ich war in Syrien eine hervorragende Schülerin. Und jetzt kann ich dem Unterricht nicht folgen, weil ich die fremde Sprache trotz des Deutschförderkurses nicht verstehe. Auch weil ich auf der Flucht meine Brille verloren habe."

Teach for Austria

Eine Initiative, die von Wirtschaft und öffentlicher Hand unterstützt wird. Sie rekrutiert sozial engagierte Hochschul- absolventen für ein zweijähriges Fellowprogramm. Nach gezielter Ausbildung unterrichten sie an Schulen, an denen auffallend viele Kinder aus armen Familien stammen.

Derzeit sind 71 Fellows an 36 Schulen im Einsatz. Dazu kommen 26 Alumni (der Jahrgänge 2012, 2013), die über das Fellowprogramm hinaus unterrichten.

Bewerbungen für den Jahrgang 2016 bis 20. März hier.

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