Herzklopfen auf der Landkarte

Herzklopfen auf der Landkarte
Wir wirken auf die Stadt ein - aber wie wirkt die Stadt auf uns? Ein Forschungsprojekt der TU Wien vermisst Gefühle per GPS.

Anna hat Angst vor Hunden. Am Weg zur Arbeit biegt sie deshalb lieber links ab. Zugegeben, die Strecke dauert dadurch drei Minuten länger, aber sie führt nicht an der Hundezone vorbei und Anna kommt entspannter im Büro an. Dort trifft sie auf Martin. Auch er hat heute den längeren Arbeitsweg gewählt, allerdings hat das mit Hunden rein gar nichts zu tun: Er wollte nicht am Haus seiner Ex-Freundin vorbeigehen, da wird ihm immer ganz mulmig...

"Wir haben unterschiedliche Routenwahlbedürfnisse, manche sind sehr individuell, andere können leichter generalisiert werden", weiß Silvia Klettner. Als Psychologin beschäftigt sie sich mit der Frage, wie öffentlicher Raum auf Menschen wirkt. Natürlich liegt hier vieles auf der Hand: "Ein Gros der Menschen wird sich in verkehrsberuhigten Zonen sicherer fühlen als auf Hauptverkehrsstraßen, wird urbanes Grün als angenehm, endlose Betonwüsten als monoton empfinden.”

Wo sich die Bedürfnisse vieler decken, muss die Stadtplanung reagieren. Wo es – wie bei Anna und Martin – höchstpersönliche Entscheidungen sind, kann ein nutzeradaptives Navi Abhilfe schaffen. Gemeinsam haben beide Lösungen jedoch eines: Sie brauchen erst einmal Daten und Karten. Genau hier liegt das Problem: Wie lassen sich diffuse, oftmals flüchtige Empfindungen à la "Fühlt sich wohl in der Singerstraße" festhalten und repräsentativ dokumentieren?

Herzklopfen auf der Landkarte
Emotionale Kartografiehat die Aufgabe, Emotionen im öffentlichen Raum zu erfassen und sichtbar zu machen. Es entstehen Emotionskarten." Anders als bei kognitiven Karten(siehe "Hintergrund"), der älteren Disziplin, repräsenentieren "Emotionmaps" tatsächlich erlebte Empfindungen. Sprich: Wo erstere unsere Vorstellungen und Vorurteile gegenüber der Welt aufzeichnen, fragt die emotionale Kartografie “wie geht es dir HIER?”.

Itipflreiterei? Nein! Denn es ist ein Unterschied, ob ich mir denke: "Am Karlsplatz sind Junkies, da gehe ich nicht hin" (=kognitives Konzept) oder ob ich vor Ort stehe und merke: Ich fühle mich sicher (=emotionale Wahrnehmung).

Fürchten in L.A.

War es bislang verpönt, solche Gefühle in die Stadtentwicklung einfließen zu lassen, gelingt es Dank neuer Technologien, sehr viel zuverlässiger entsprechende Daten zu sammeln. Die Kombination von GPS und psychologischen Messungen (etwa via Hautleitwiderstand) machen eine Objektivierung subjektiver Eindrücke möglich: Unser Bauchgefühl wird datengestützt.

So schickt etwa der britische Künstler Christian Nold (siehe Abschnitt "Kunstprojekte") Probanden mit GPS- und einer Art Lügendetektortechnologie auf die Straße und zeichnet ihre Reaktionen auf, während amerikanische Forscher "Angstkarten" von Los Angeles erstellen.

Herzklopfen auf der Landkarte
Klettner: “Herzklopfen ist messbar, aber man muss es auch interpretieren: Zeigt es Angst, Freude oder Überraschung? Das ist oft schwierig.” An der TU hat man deshalb einen anderen Weg gewählt und ließ die Probanden ihre Emotionen via App eingeben: Wo verorte ich den Resselpark auf einer Skala zwischen angenehm und unangenehm, zwischen monoton und vielfältig?

Das Forschungsprojekt zeigt dabei deutlich: Zeit- und Streckenoptimierung spielen eine untergeordnete Rolle bei der Routenplanung, nicht nur für Anna und Martin. Die "Wohlfül-Strecke" wird fast immer der schnellen vorgezogen.

"There's an app for that!"

Was aber tun mit all den Daten? Sichtbar machen ist das eine, doch können solche Informationen tatsächlich genutzt werden, um Fußgängernavigation zu verbessern? "Ja", sagt Klettner, "Denn von Navigationsservices vorgeschlagene Routen, die auf subjektiven Parametern basieren, entsprechen viel stärker unserem Verhalten als Routen die von konventionellen Algorithmen berechnet werden."

Natürlich sollen vorhandene geografische Daten nicht ersetzt werden, aber sie werden um ein emotionales "Layer" angereichert. Der Arbeitsweg der Zukunft wird sich somit nicht nur aus Zeit, Weg und Geschwindigkeit berechnen lassen, sondern auch aus Hundephobie, Exfreundinnen und – siehe Webtipp unten – Kipferl im Park.

Der britische Künstler und Aktivist Christian Nold entwickelt partizipative Projekte zur Erfassung öffentlichen Raums.

KURIER: Womit beschäftigt sich die Forschungsgruppe Kartografie?

Herzklopfen auf der Landkarte
Herzklopfen, Sylvia Kettner
Klettner:Von ihrer Geschichte her natürlich mit Kartenerstellung. Die Kartografie hat sich in den letzten Jahrzenten sehr gewandelt, von Printkarten zu digitalen Karten. Digitale Karten werden im Web verwendet, aber natürlich auch auf Smartphones; dadurch verändern sich die Möglichkeiten, wie ich Karten darstellen kann. Abgesehen von der Frage 'Welchen Platz hab ich zur Verfügung?', sind Karten auf Smartphones viel interaktiver, Nutzer interagieren intensiv mit ihnen oder - wie im Fall vonOpen Street Map- ergänzen und erstellen sie selbst.

Brauchen Fußgänger andere Navigations-Services als Autofahrer?

Für motorisierte Mobilität gibt es inzwischen ja eine Vielzahl von Navigationslösungen. Wir haben uns aber mit Fußgängermobilität beschäftigt, weil die vorhandenen Services einfach unzureichend auf die Bedürfnisse von Fußgängern eingehen. Da geht es z.b. um das Thema semantische Routenanweisungen: Denkt der Mensch Strecken in Metern und Minuten - oder in Referenzpunkten? Das heißt, denken wir 'Gehe 100 Meter geradeaus' oder 'Geh bis zum Billa vor und dann links'? Im Auto verhalten wir uns da anders, da sind Meterangaben sinnvoll - aber wie ist das für Fußgänger?

Werden Sprachanweisungen via Handy von Fußgängern denn überhaupt genutzt?

Auch das wird gerade erforscht: Welche Möglichkeiten der Routenkommunikation gibt es für Fußgänger, welche nutzt man eher - einen "klassischen" Plan wie Google Maps? Augmented Reality Angebote? Sprachanweisungen? Es gibt zum Beispiel eine Augmented Reality App, bei der ich einen Pfeil sehe, der mich in die richtige Richtung führt oder einen roten Teppich, dem ich folgen kann, wenn ich durch’s Handy schaue...

Zur Person

Silvia Klettner (30) arbeitet als Psychologin mit Schwerpunkt Umweltpsychologie in der Forschungsgruppe Kartografie der TU Wien. Aktuell ist sie Projektassistentin der Projekte EmoMap und fem2map, die vom Bundesministerium für Verkehrsinnovation und Technologie gefördert werden.

Spazieren ist für mich mehr als nur gehen. Oft ist es ein Prozess, bei dem sich etwas (auf-)tut. Ich gehe, also fühle ich. Der Schriftsteller Karl Heinrich Waggerl sprach von einer „Kunst des Spazierengehens“ – vergleichbar mit der ebenso selten geübten Kunst, im Gespräch jemandem zuzuhören, also die Fähigkeit, sich offen zu halten, empfangsbereit zu sein. Wenn ich spaziere, höre ich mir zu. Und den Geschichten, die mir der Ort, an dem ich spaziere, erzählt.

Ich liebe Stadtspaziergänge durch Wien – es ist die Stadt, in der ich geboren bin und in der ich von klein auf lebe. Viel von ihr ist mit vielem, das ich hier erfahren und gefühlt habe, verknüpft. Deshalb kehre ich an bestimmte Plätze immer wieder zurück – als wandernde Wiederholungstäterin, die für sich erkannt hat, dass ihr mancher Ort mehr Erinnerungen und Emotionen schenken kann als alte Fotoalben.

Ein Mal im Jahre schlendere ich durch jene beiden Gassen in Ottakring (16. Wiener Gemeindebezirk), in denen ich als Kind und Jugendliche gelebt habe. Vieles hat sich dort verändert, aber vor das Veränderte schiebt sich – wie eine Kulisse – was damals war. Ich sehe den dicken Wirten vom Eck und schmecke Limonade. Ich rieche das frische Brot von der Milchfrau gegenüber. Beide existieren längst nicht mehr, aber in meinem Kopf sind sie da, wenn ich dort bin. Und mit ihnen alle Gefühle – das Glück und Leid von einst.

Manchmal höre ich dabei tatsächlich die Stimme meiner Mutter oder der Nachbarin, die mit mir auf die Hameau Wiese im Wienerwald Ski fahren gegangen ist. Beide sind schon lange tot. Aber der Ort schenkt sie mir für Momente wieder.

Die menschliche Erfahrung von Distanz ist höchst individuell. Ob eine Strecke als Klacks oder als Zumutung eingestuft wird, wird von vielen Faktoren bestimmt. Amerikaner sind beispielsweise unterrepräsentiert, wenn es um den Besitz von Reisepässen geht – ihre Bereitschaft zur Mobilität innerhalb der USA ist legendär. Skandinavier fahren oft 200 Kilometer, nur um in die Disco zu gehen. Wiener raunzen, wenn sie beruflich einen Tag nach Salzburg müssen. Linz geht gerade noch.

Entscheidend ist dabei weniger die Mentalität einer Nation als ihre Besiedlungsdichte. Wo alle paar hundert Kilometer eine Stadt steht, steigt die Bereitschaft, größere Distanzen zurückzulegen, wodurch sich die amerikanische Pendelfreudigkeit erklärt. Auch die österreichische – geradezu absurde – Ehrfurcht vor Nationalgrenzen dehnt Distanzen überproportional: Die Strecke Wien-Bratislava misst 79 Kilometer, jene erwähnte zwischen Wien und Linz immerhin 187. Die „kognitive Landkarte“ rückt Bratislava dennoch weiter weg. Das ist ja Ausland.

Eiserner Vorhang

In Deutschland macht die Vorstellungskraft so manchem Pendler einen Strich durch die Kilometerrechnung. Fast 25 Jahre nach dem Mauerfall existiert der Eiserne Vorhang im Kopf, Wegzeiten in den ehemaligen „Osten“ werden von „Wessis“ massiv überschätzt. Wobei auch die politische Einstellung eine Rolle spielt: Deutsche, die positive Gefühle gegenüber der Wiedervereinigung hegen, verschätzen sich weniger stark als Gegner. Studien weisen das als durchwegs internationales Phänomen aus: Nationen, die uns sympathisch sind, werden auch geografisch als näher wahrgenommen als „unsympathische Länder“.

Interessant ist, dass die Welt zwar – Twitter und Skype sei Dank – enger zusammenrückt, unser Empfinden für physische Distanzen sich durch neue Medien aber kaum ändert. Sobald der Chat mit der Freundin in Rom beendet, der Computer abgedreht ist, bleibt die kognitive Repräsentation der Stecke nach Rom immer noch weit.

Wie oft möchte ich am Weg zur Arbeit umsteigen? Kann/will ich Stiegen nehmen? Ist mein Schritttempo eher langsam oder schnell? Möchte ich unterwegs noch Schuhe kaufen oder gar ein Kipferl im Park essen? myits.at ist ein Intelligenter Routenplaner, der stark auf unterschiedliche Mobilitätsstile und -wünsche Rücksicht nimmt. Sobald ich meine Spezifikationen eingegeben habe, schlägt mir die Website die passende Route vor.

Umgesetzt von der österreichischen Firma Fluidtime, die auch für die Wiener Linien App Qando verantwortlich zeichnet, wurde myITS 2012 mit einem Content Award ausgezeichnet. (Hier die Begründung der Jury.)

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