Ein Leben im Schatten des Suizids

Ein Leben im Schatten des Suizids
Fahim Niazi musste in seiner Heimat Afghanistan um sein Leben fürchten. Im Sommer 2015 floh er nach Österreich. Hier lebt er seither in Sicherheit, doch die Gedanken an den Suizid sind sein ständiger Begleiter.

"Ich töte hier die Stunden", antwortet Fahim auf die Frage, was für ihn die größte Herausforderung des Alltags sei. "Ich habe akzeptiert, dass das jetzt mein Leben ist. Ich musste flüchten. Aber ich bin nicht mehr der Mann, der ich früher war."

15 lange Monate ist es her, seit Fahim Niazi im Juni 2015 österreichischen Boden betrat. Seiner Ankunft im sicheren Österreich war eine beschwerliche Flucht aus Afghanistan vorangegangen. An die schrecklichen Strapazen erinnert er sich noch heute. Was jedoch noch schlimmer ist, sind die Erinnerungen an die erbarmungslose Verfolgung, der er in seiner Heimat ausgesetzt war. Was unmittelbar nach der beschwerlichen Flucht blieb, war die Erschöpfung. Doch je länger Fahim in Sicherheit weilte, desto größer wurde eine andere, ganz neue Bedrohung – die Gedanken an Selbstmord.

Ein Leben im Schatten des Suizids
An einem warmen Samstagnachmittag im September empfängt uns Fahim in seinem neuen Zuhause in der oberösterreichischen 1.000-Seelen-Ortschaft Helfenberg. Kahl, düster und etwas beklemmend mutet das Stiegenhaus an, in dem er uns begrüßt. Über massive Steinstiegen geht es hinauf in den ersten Stock der Flüchtlingsunterkunft, in dem der gebürtige Afghane seit etwas mehr als einem Jahr lebt. In dem ehemaligen Mehrfamilienhaus haben neben dem 25-Jährigen auch noch 33 andere Flüchtlinge eine Unterkunft gefunden. Fahim wohnt im ersten Stock des Gebäudes. Das Zimmer teilt er sich mit seinem um vier Jahre jüngeren Bruder Ramin. Durch den etwas lieblos gestalteten Vorraum folgen wir ihm in die Küche. Dort begrüßt uns neben der hellen Herbstsonne, die durch das große, offene Fenster scheint, auch ein stumm laufender Fernseher. Fahim bittet uns Platz zu nehmen, schenkt Schwarztee ein und unterbricht mit seiner ruhigen Stimme die sonderbare Stille, die durch das Fenster ins Zimmer strömt. "Es ist sehr ruhig hier in Helfenberg, ein bisschen zu ruhig", sagt Fahim in nahezu perfektem Deutsch, während er nach draußen blickt und den Kirchenglocken lauscht. Zu der Teekanne und den drei Gläsern auf dem Tisch gesellt sich noch eine Schüssel gesalzene Cashews. Die holt Fahim extra aus seinem Zimmer. Dann beginnt er zu erzählen.

Erinnerungen an die Verfolgung

Ein Leben im Schatten des Suizids
Seine Kindheit und Jugend verbrachte Fahim in Herat, einer der größten Städte Afghanistans, die im Westen des Landes unweit der iranischen Grenze liegt. Nach dem Abschluss seines Ingenieursstudiums gründete er zusammen mit einem Freund seine eigene Baufirma. Zwei Jahre lang baute er daraufhin zusammen mit einer italienischen Partnerfirma unter anderem Schulen für Mädchen – eine Bautätigkeit, die den radikalen Taliban zutiefst missfiel. "Die Taliban wollen nicht, dass Frauen in die Schule gehen. Deswegen haben wird große Probleme bekommen", erinnert sich Fahim. Durch das Zahlen horrender Schutzgelder konnten die Taliban über einen relativ langen Zeitraum besänftigt werden, bis die Lage eskalierte. Als sein Firmenpartner gefoltert und erschossen wurde, wurde die Bedrohung real. Am nächsten Tag verließ Fahim das Land. "Sie haben mich als Spion gesehen. Ich wollte mein Land eigentlich nicht verlassen", beschreibt er. "Aber ich habe gewusst, dass es auch mich treffen wird."

Fahims Fluchtroute führte über den Iran in die Türkei und von dort aus nach Griechenland. Begleitet wurde er von seinen beiden Brüdern, denn auch sie waren in Herat nicht mehr sicher. Das Mittelmeer überquerte er mit einem winzigen Boot, auf dem sich viel zu viele Menschen befanden – ein Szenario, das in der Vergangenheit für tausende Flüchtlinge den sicheren Tod bedeutete. Fahim und seine Brüder überlebten. Am Festland angekommen standen sie vor der nächsten Herausforderung: der Weg nach Mitteleuropa. Lange Zeit schafften es die drei Brüder zusammen zu bleiben, in Ungarn wurden sie schließlich getrennt. Für Fahims älteren Bruder endete die Reise in Deutschland, für ihn selbst und seinen jüngeren Bruder ging es hingegen weiter nach Österreich. Im Juni 2015 stellten die beiden Brüder ihren Asylantrag. 7.680 Menschen taten es ihnen gleich. Insgesamt suchten 2015 in den Sommermonaten Juni, Juli und August über 25.000 Menschen in Österreich um Asyl an.

Ein Leben im Schatten des Suizids
Die Erzählungen des jungen Afghanen lassen den hellen, hohen Küchenraum regelrecht bedrückend erscheinen. Um die Stimmung aufzulockern serviert er selbstgekochte Linsensuppe. Aus einem großen Topf schöpft er den currygelben Brei gleichmäßig in die Suppenteller. Dazu gibt’s Reis – und noch mehr Tee. "Normalerweise koche ich nicht, aber heute habe ich eine Ausnahme gemacht", scherzt er. Begleitet vom Klang der Kirchenglocken nehmen wir die ersten Bissen.

"Die Sorge um meine Familie hat mich überrannt"

Um sich auf andere Gedanken zu bringen und sich die Zeit zu vertreiben schreibt Fahim Gedichte. Auch das Lesen ist eine seiner Leidenschaften. Für ihn ist das eine Form der Therapie. Therapeutische Hilfe bekommt der 25-Jährige auch vom Therapiezentrum OASIS der Volkshilfe OÖ. Über die Initiative können geflüchtete Kinder und Jugendliche, erwachsene Asylwerber und anerkannte Flüchtlinge dolmetschergestützte psychologische und psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen. Bis dato wurden in diesem Jahr in Summe über 2.000 Therapieeinheiten durchgeführt. Die häufigste Diagnose, die dabei gestellt wurde, ist die Posttraumatische Belastungsstörung. Nicht selten geht diese psychische Erkrankung mit hoher Suizidalität einher. Auch wiederkehrende Erinnerungen, Vermeidungsverhalten, Übererregung sowie Depressionen und Angststörungen sind charakteristisch.

Auch Fahim kennt diese Gefühle nur allzu gut. In den regelmäßigen Sitzungen mit einer Psychologin versucht Fahim das Erlebte zu vergessen, seine tiefsitzenden Schuldgefühle gegenüber seiner Familie abzulegen und einen Neustart ins Auge zu fassen. "Am Anfang war ich nicht depressiv. Ich dachte, dass alles besser ist, weil ich aus Afghanistan weg bin und ich in einem sicheren Land bin und keine Probleme habe. Doch nach drei bis vier Monaten hat mich die Sorge um meine Familie überrannt. Sie sind nicht sicher. Dann habe ich zum ersten Mal Tabletten genommen, weil ich mich umbringen wollte." Für viele geflüchtete Menschen stellt die Scham angesichts der Inanspruchnahme einer Therapie die größte Hürde dar, doch Fahim stellt sich der Behandlung – und damit auch seinen Selbstmordgedanken.

Ein Leben im Schatten des Suizids
Trotz der intensiven Behandlung und einer relativen Stabilisierung durch die Gesprächstherapie, ist die Hoffnung auf ein schönes, neues Leben nach wie vor in weiter Ferne. "Ich fühle mich wie ein toter Körper. Ohne Gefühle." Durch die Therapie fühle er sich aber zumindest phasenweise etwas besser. "Wenn ich zwei oder drei Wochen nicht in Therapie gehe, dann geht es mir viel schlechter. Deswegen gehe ich regelmäßig."

Die Suche nach Antworten

Neben den Therapieeinheiten, den Büchern und seinen Gedichten sind es auch philosophische Gedanken, die Fahim lebendig halten. Seinen religiösen Glauben hat Fahim schon vor einiger Zeit abgelegt. Was geblieben ist, ist der Glaube an eine Energie, die uns eint und gleichsam die Antworten auf all unsere Fragen ist. "Für manche Dinge gibt es keine Antwort, man muss einfach glauben." Auch der Glaube an Menschlichkeit hält ihn aufrecht. "Wir sind alle Teile eines größeren Ganzen. Wenn wir kein Mitgefühl für Menschen in Not aufbringen können, bricht alles zusammen", erklärt er mit erstarkter Stimme.

Als die Glockenklänge zum dritten Mal durchs Fenster schallen, neigt sich unser gemeinsamer Nachmittag langsam dem Ende zu. Ich will von Fahim noch wissen, was er sich von der Zukunft wünscht. "Ein toter Körper hat keine Wünsche", entgegnet er. Er sei so zu oft an einem Punkt der Hoffnungslosigkeit, sodass er nicht wisse, ob es eine Zukunft für ihn gibt und wie diese aussehen könnte. "Ich sehe den Grund zum Leben einfach nicht mehr. Ich hatte ein Leben in meiner Heimat, ich hatte eine Familie, ich war verliebt. Jetzt habe ich gar nichts mehr." Warum er trotzdem jeden Tag aufstehe, wisse er selbst nicht. "Das ist die Frage, auf die ich eine Antwort suche."

Der Weg nach draußen führt uns wenig später erneut über die Steinstufen nach unten. Am Ausgang angekommen verabschiede ich mich. "Ich wünsche Ihnen, dass Sie Antworten auf Ihre Fragen finden", sage ich und strecke ihm meine Hand entgegen. "Schau ma moi", sagt er und erwidert die Abschiedsgeste mit einem Lächeln.

Wenn Sie Hilfe benötigen, ist dieses Telefon 24 Stunden besetzt.

Sozialpsychiatrischer Notdienst

Tel.: (01) 31330

Kommentare