Die Zukunft des Glaubens

Die Zukunft des Glaubens
Die Religionen zwischen Tradition und Aufbruch. Wer in 30 Jahren woran glauben wird.

Was hat der Kalte Krieg mit Glaubensfragen zu tun? Viel, behauptet zumindest der finnische Religions- und Migrationsforscher Tuomas Martikainen. Er hat sich mit Wissenschaftler-Kollegen auf die Suche nach der Glaubensmetamorphose begeben, die wir gerade erleben: "1989 war das Jahr, in dem der Kalte Krieg endete und damit auch ein Schlüsseljahr für den religiösen Wandel." Damals fielen nicht nur Mauern, stürzten nicht nur Regime und gerieten nicht nur Grenzen in Bewegung – Menschen begaben sich auf Wanderschaft und brachten festgefahrene Glaubenswelten ins Wanken.

25 Jahre später sprechen Religionsforscher auf der Konferenz "Religion in Vienna" des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital von einer "Soft-Revolution": "Die Diversität der Gesellschaft macht auch die religiöse Landschaft vielfältiger", sagt Anne Goujon. Die Demografin hat gemeinsam mit ihrem Kollegen Ramon Bauer den Glauben der Wiener zwischen 1971 und 2011 untersucht und kann ihre Forschung in zwei wenig überraschenden Worten zusammenfassen: "Christen verlieren."

Bis 1987 hätten sie in der Hauptstadt mehr oder weniger die Alleinherrschaft gehabt. Doch dann kamen Jugoslawienkrieg, Migrationswellen, Kirchenskandale und -austritte zuhauf.Blickt man statistisch in die Zukunft – und das haben die Forscher im Rahmen ihres WIREL-Projekts der Österreichischen Akademie der Wissenschaften getan –, werden in gut 30 Jahren nur noch 33 Prozent der Wiener katholisch sein, der Anteil der Muslime liegt mit 21 Prozent beinahe doppelt so hoch wie heute. "Der Trend geht in Richtung Privatisierung und Individualisierung der Religion", sagt Ramon Bauer. Statt institutionalisierter Kirche, mit etwa einem fixen Messe-Besuch am Sonntag, bewege sich die Hauptstadt in Richtung Spiritualität und privatem Glauben.

Jedem sein Gott

Dabei habe Wien sowohl bei der Vielfalt der Religionen als auch beim Sich-Abwenden von der traditionellen Kirche eine Vorreiterrolle für die anderen Bundesländer. Der Befund der österreichischen Forscher deckt sich mit einer jüngst veröffentlichten Schweizer Studie. Darin unterteilen Religionssoziologen die christliche und religiös-spirituelle Landschaft in vier Typen mit ganz unterschiedlichen Glaubensvorstellungen:

57 Prozent gehören der stark wachsenden Gruppe der Distanzierten an ("Ich glaube an etwas Höheres." Was? "Weiß ich nicht genau").

18 Prozent zählen zu den schrumpfenden Institutionellen (Kirchgänger, Ältere, eher Frauen. Sie denken, Gott ist eine Mischung aus Vater-Mutter-Figur und transzendentem Psychoanalytiker).

13 Prozent fallen in die konstant große Gruppe der Alternativen (Esoteriker, jene, die an Kristalle, Reinkarnation, Engel glauben und Gott als eine Licht-Kraft-Energie sehen. Sie sind häufig auch sonst alternativ).

12 Prozent werden zur deutlich wachsenden Gruppe der Säkularen gerechnet (sind weder religiös noch spirituell, oft sogar Religionsgegner, deutlich mehr Männer). "Wenn man schaut, was derzeit in Europa läuft, erkennt man, dass überall ähnliche Mechanismen eine Rolle spielen. Sie haben überall eine starke Säkularisierung. Und sie haben überall das Phänomen der Distanzierten, für die Religion nur im begrenzten Ausmaß wichtig ist", sagt der Schweizer Religionssoziologe Jörg Stolz, der die Studie durchgeführt hat.

Traditionsbruch

Innerhalb aller vier Typen regiert die Individualisierung: Jeder entscheidet allein, was er glauben und praktizieren will, getrieben von Nutzen und persönlicher Befindlichkeit. Das eigene Ich sei sowohl bei Gläubigen als auch bei Ungläubigen zur zentralen Richtschnur des Entscheidens geworden, diagnostiziert Stolz. Aufgrund der Wahlfreiheit gerät die religiöse Sphäre zunehmend unter Konkurrenzdruck, weil auch religiöse Angebote nach Preis beurteilt werden. Das Konsumdenken hat also auch die Religion fest im Griff. Folge: Dem Traditionsbruch wird kirchliches Marketing entgegengesetzt. Doch warum nimmt Gläubigkeit ab? Stolz: "Das hängt mit der Modernisierung zusammen."

Bildung killt Glauben

Ein wichtiger Faktor, der Menschen gläubig macht, sei die Unsicherheit. "Wenn man nicht weiß, was die nächsten Tage bringen, sucht man in der Religion Zuflucht", sagt Stolz. "Wenn man so sicher ist wie wir in der westlichen Welt, braucht man Religion viel weniger."Womit wir wieder in der großen weiten Welt und bei den Auswirkungen der Religion auf sie wären. "Bisher gab es kaum Forschungen darüber, warum Religion wichtig ist. Nur sehr viel Meinung", sagt der norwegische Wissenschaftler Vegard Skirbekk und präsentiert Zahlen und überraschende Fakten aus dem Pew-Templeton Global Religious Futures Project, das sich erstmals mit der Zukunft der Religion in 199 Nationen beschäftigt. "Damit werden 99 Prozent der globalen Population abgedeckt", sagt Skirbekk.

Kostproben

Besonders rasch legen die Katholiken in Afrika südlich der Sahara zu. Waren dort 1910 eine Million Menschen Christen, sind es heute 171 Millionen. Ein ähnlich gutes Pflaster ist die Pazifik-Region in Asien. Dort sind 131 Millionen katholisch. 1910 waren es nur 14 Millionen.

Fast überall auf der Welt stellen die Christen die Mehrheit.97 Prozent der Hindus sind dort, wo sie zu Hause sind, die Mehrheit, während 59 Prozent der Juden als Minderheit leben. Und die Mehrheit der Migranten weltweit sind – nein, nicht Muslime – Christen. Demograf Skirbekk kommt auch zum Schluss, dass Religion d e r unterschätzte Faktor schlechthin ist. Sie sei zwar Privatsache, bestimme aber die Identität von Menschen – "sie ist das, was sie antreibt, den Lebensstil prägt", sagt der Forscher. "Sie hat Einfluss auf die Gesundheit, denken Sie nur an religiös bedingte Kondom-Verbote und Aids. Oder daran, dass Essensvorschriften je nach Glaubensrichtung divergieren, Moslems tendenziell keinen Alkohol trinken und Hindus Vegetarier sind, was möglicherweise gut für die Gesundheit sein könnte.

"Je nach Religion dominieren daher auch unterschiedliche Krankheiten. Das rücke erst langsam in den Fokus der Forschung. Und dann ist da noch die Fruchtbarkeit. Skirbekk: "Es gibt große Unterschiede, was die Fertilität der religiösen Gruppen betrifft", sagt Skirbekk. "Religion wird vererbt, und Religiöse haben früher und mehr Kinder". Wer also wissen will, wie die Glaubenslandschaft um 2050 aussieht, muss sich nur die Zahl der Kinder pro Frau vor Augen halten: "Muslime und Orthodoxe bekommen die meisten Kinder, Glaubenslose die wenigsten, Katholiken und Protestanten liegen dazwischen", sagt Tomáš Sobotka vom Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital.

"Besonders die Frage, drittes Kind, ja oder nein?‘ wird von der Gläubigkeit und der Religionszugehörigkeit bestimmt."

Prognose

Und so rechnen die Experten für 2046 mit 21 Prozent Wienern, die dem Islam angehören. 2011 waren es 12 Prozent. Die Orthodoxen wachsen von 9 auf 11 Prozent. Keine Veränderung prognostizieren die WIREL-Ergebnisse bei Juden und anderen Religionen. Gleichzeitig lässt die "Verbuntung", wie der Theologe Paul Zulehner die neue religiöse Vielfalt nennt, die Zahl der interreligiösen Partnerschaften ansteigen. Bei diesen Paaren steht die Religion oft im Hintergrund, sie haben weniger Kinder, und wenn die einen Glauben bekommen sollen, ist es meist der der Mutter.

Bleibt nur noch die Frage nach der Zukunft von Weihnachten. Die sehen die Wissenschaftler durchaus positiv. Religionssoziologe Stolz: "Weihnachten ist die wichtigste Zeit, in der auch die Distanzierten sich um Religion bemühen. Da geht man in die Kirche, da singt man religiöse Lieder und hängt an Traditionen." Und das sollte auch noch eine Zeit lang so bleiben.

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Wer einen Computer und einen Internet-Anschluss besitzt, kann sich mit den Religionsforschern auf eine virtuelle Reise durch Raum (ganz Wien) und Zeit (1971 bis 2011) begeben. Für diesen Zeitraum hat Ramon Bauer mit seinem Team die Veränderung der religiösen Landschaft in der Hauptstadt interaktiv und spektakulär aufbereitet. Unter www.wirel-project.at

dataviz kann jeder nachvollziehen, dass viele Christen seit 1981 an den Stadtrand gezogen sind, dass es keine Ghettos für Muslime gibt und dass es im Zentrum mehr religiöses Gemisch gibt als sonstwo in der Stadt.

Jörg Stolz u.a.: "Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens", Edition NZN, 32,30 €.

Franz Wuketits: "Was Atheisten glauben", Gütersloher Verlagshaus, 19,99 €.

Neun verschiedene Twitter-Konten. 14 Millionen Follower. Und jeder seiner Tweets wird durchschnittlich mehr als 10.000 mal weitergeleitet. Papst Franziskus ist der einflussreichste Mann in der virtuellen Welt.

Das hört die Kirche gerne: Zwar hat US-Präsident Barak Obama die meisten Follower auf Twitter – 43 Millionen Menschen –, der Papst hat aber mehr Einfluss. In der wichtigsten Disziplin, dem Weiterleiten von Nachrichten, die Menschen für interessant halten, hängt er Obama deutlich ab.
Die katholische Kirche hat das WWW punktuell für sich entdeckt – etwa in Form des Sonntagsgottesdienst im eigenen Wohnzimmer: Seit 2008 überträgt die steirische Pfarre Hartberg Sonntag für Sonntag ihren Gottesdienst via Internet – angeblich wohlgenützt von Senioren, die nicht mehr leichtfüssig in die Kirche können, Auslandsösterreichern oder Christen, die das Bett hüten müssen.

Ist die Kirche also zumindest virtuell im 21. Jahrhundert angekommen? Der Eindruck täuscht, sagt Religionssoziologe Kurt Appel. „Ich denke, dass die katholische Kirche da noch wenig präsent ist. Einzelpersonen, einige wenige Klöster und Pfarren sind aktiv. Im Großen und Ganzen hat man, wie so vieles, auch das verschlafen“.

Falsches Medium?

Allerdings könne man natürlich hinterfragen, „inwieweit diese Medien adäquat sind“. Schließlich gehe es gerade in Glaubensfragen um gemeinsames Erleben in der echten, nicht virtuellen Welt. „Der Gottesdienst – also die Versammlung der Gläubigen zur Feier des Glaubens – braucht den realen Vollzug“, sagt auch Paul Wuthe, Leiter des Medienreferats der Österreichischen Bischofskonferenz.

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