China: "Weibo"-Boom erhöht Reformdruck

In Online-Netzwerken emanzipieren sich immer mehr Chinesen gegenüber ihrer autoritären Staatsführung.

Die chinesischen Staatsmedien sind unter strenger Kontrolle der Kommunistischen Partei. Doch in Twitter-ähnlichen Mikroblogs bildet sich heute rasend schnell eine öffentliche Meinung. 200 Millionen Chinesen machen mit. Der Reformdruck auf den Machtapparat wächst.

"Nach drei Jahrzehnten Reform und Öffnung sind die Medien der letzte Bereich, der sich noch nicht geöffnet hat", macht ein kritischer chinesischer Journalismusprofessor im vertraulichen Gespräch keinen Hehl aus seiner Verärgerung über die Zensur. In Anlehnung an Chinas autoritäres Entwicklungsmodell einer "sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung" spricht der Professor von sozialen Medien "mit chinesischen Charakteristika". Schon fünfmal wurde sein Konto bei dem "Weibo" genannten Twitter-Klon des populären Portals Sina gelöscht. Jetzt meldet er sich wieder an - variiert nur etwas seinen Namen. "Meine Wiedergeburt", scherzt er.

Der Grund für den Eingriff der Zensur: Einmal hatte sich der Pekinger Professor kritisch über den Umgang der Behörden mit dem schweren Zugsunglück am 23. Juli mit 40 Toten geäußert. Ein anderes Mal schrieb er über ein sommerliches Geheimtreffen der Parteiführung im Badeort Beidaihe, wo es um den für 2012 geplanten Generationswechsel ging (Vizepräsident Xi Jinping soll Staats- und Parteichef Hu Jintao ablösen). Nicht nur die Beiträge wurden gestrichen, sondern gleich sein ganzes Konto. "Irgendetwas ist immer politisch heikel", schüttelt er den Kopf. "Es gibt so viele Kontroversen." Ein mutiger Kollege habe auf dem "Weibo" sogar schon 60 Mal "wiedergeboren" werden müssen.

Lokale Anbieter statt Facebook, Twitter und YouTube

Ausländische soziale Medien wie Twitter, Facebook oder YouTube sind in der Volksrepublik China gesperrt. Dafür haben sich die zensierten Mikroblogs chinesischer Anbieter wie Sina oder Tencent explosionsartig entwickelt. Rund 200 Millionen Chinesen - fast jeder zweite der weltgrößten Internetgemeinde - sind mit Computer oder Handy auf den Mikroblogs unterwegs. Vor einem halben Jahr war es erst jeder Zehnte.

Die alten Staatsmedien sind sich der neuen Macht der Kurznachrichtendienste bewusst. "Die "Weibo"-Revolution hat die Art verändert, wie wir Nachrichten lesen, was wir essen oder einkaufen", sagt der Vize-Chefredakteur der englischsprachigen Zeitung "China Daily", Kang Bing. "Soziale Medien sind in jeden Lebensbereich eingedrungen." In den Führungsetagen der Staatsagentur Xinhua (Neues China) ist von einer "neuen Ära" die Rede: "Jeder kann jetzt Reporter sein. Die neuen Medien verändern die Gesellschaft."

Mehr Transparenz

Der Wandel hat Folgen für den kommunistischen Machtapparat. Die Propagandabehörden und traditionelle Staatsmedien spüren den Druck, schneller zu reagieren und transparenter zu agieren. Sie können den Leuten heute weniger vormachen. "Sie müssen sich reformieren", sagt ein hoher Verantwortlicher einer offiziellen Zeitung im privaten Gespräch. "Auch müssen sie glaubwürdiger werden." Zwar laufe eine Kampagne gegen "erfundene Gerüchte" in den "Weibo", aber es gebe keinen Weg zurück, glaubt er. Die Technik sei einfach da.

Es gebe nicht nur Gefahren für das kommunistische System, sondern auch Vorteile. "Die Regierung kann die Mikroblogs für eigene Zwecke nutzen", hebt der Zeitungsmanager hervor. "Sie bekommt heute viel schneller mit, was das Volk denkt und wie die Stimmung ist." Lokale Politiker nutzten die "Weibo" sogar erfolgreich für ihre Arbeit. Einige seien auf diese Weise sehr populär geworden. "Sie finden den richtigen Ton, um mit den Menschen zu kommunizieren."

He Hua ist so einer. Der 34-jährige Direktor des Propagandaamtes der fünf Millionen Einwohner zählenden Präfektur Qujing in der südlichen Provinz Yunnan berichtet seit zwei Jahren auf dem Tencent-Mikroblog über die Arbeit der Behörden, beantwortet Bürgerfragen und verbreitet Fotos. Auch mit einem jüngsten Fall von Umweltverschmutzung in Qujing ging He Hua offen um. Mehr als 20.000 Menschen folgen ihm.

Zensur und Schlupflöcher

Um ihre Lizenz nicht zu verlieren, zensieren die Betreiber der "Weibo" sich selbst. Sie haben nicht nur Filtersoftware installiert, sondern beschäftigen auch eine Armee von Leuten, die heikle Beiträge streichen. Teilnehmer an Diskussionen verändern aber ständig die Reizwörter, um Filter zu umgehen, oder verwandeln Text in Fotos um. In kritischen Kommentaren wird aus Ministerpräsident Wen Jiabao schon einmal "Baobao". Der berühmte regimekritische Künstler Ai Weiwei wird mit anderen Zeichen "Ai Weilai" geschrieben: "Liebe die Zukunft".

In den Mikroblogs entwickelt sich ein Aktivismus von Bürgern, die Missstände anprangern, die Behörden der Lüge überführen oder zu Protesten aufrufen, wie jüngst gegen eine umstrittene Chemiefabrik. Die bisherige Doppelstrategie der Mächtigen, einerseits Wachstum und Wohlstand zu liefern und andererseits demokratische Opposition zu unterdrücken, gerät in Bedrängnis. Das Internet wächst zur sozialen Plattform heran. Bürger demonstrieren ein gestärktes Bewusstsein für ihre Rechte als Verbraucher, Steuerzahler oder Wohnungseigentümer. Während sie Korruption, Umweltzerstörung und Inkompetenz von Funktionären enthüllen, treten zunehmend die tiefer liegenden Widersprüche des autoritären Entwicklungsmodells zutage.

"Wir Chinesen sind schlau", berichtet der Journalismusprofessor stolz, wie Zensur umgangen und Online-Sperren überwunden werden. "Wir waren in der Lage, die Große Mauer zu bauen, und deswegen können wir auch über die Große Firewall von China klettern." Der Machtapparat werde weiter versuchen, soziale Netzwerke in Schach zu halten, glaubt der Medienwissenschaftler. "Kurzfristig" erwartet er wenig Linderung der Zensur. "Die Medien sind vielleicht das letzte Schutzschild für die Legitimität der Regierung", sagt er. "Weil sie aber immer schwerer zu kontrollieren sind, bin ich langfristig optimistisch."

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