Wenn Boote die einzige Chance sind

Fast vergessen: Vor 35 Jahren sorgten die Bilder von den hoffnungslos überfüllten Booten der Vietnamesen für Betroffenheit. Für viele wurde das südchinesische Meer zur Falle.
Eine Überlebende erzählt über das Glück des Ankommens.
Von Uwe Mauch

Natürlich hat auch sie die schockierenden Bilder aus dem Mittelmeer registriert. Und es ist davon auszugehen, dass sie das Schicksal der Menschen, die auf miserablen Schlepperbooten dem Tod entgegentreiben, mehr berührt als andere.

Wenn Boote die einzige Chance sind
Thi-Ngoc Tam Mucherl-Dang
Thi-Ngoc Tam Mucherl-Dang hat selbst so eine gefährliche Fahrt überlebt – im Herbst 1980. "Ich war drei Monate alt. Meine Eltern sagen, dass wir sechs Nächte und fünf Tage unterwegs waren." Von der Küste Vietnams erreichte die Familie das rettende Ufer Malaysias. Es war ein Himmelfahrtskommando durch den Golf von Thailand. Mit an Bord Thi-Ngoc Tams sechs ältere Geschwister, die im Süden Vietnams geboren wurden, alle im Abstand von zwei Jahren.

"Wenn ich die aktuellen Bilder sehe, bin ich dankbar dafür, dass uns die Flucht gelungen ist", sagt Mucherl-Dang, die in einem Wiener Medienbetrieb arbeitet.

Der letzte Ausweg

So wie den Menschen, die heute hilflos im Mittelmeer treiben, war auch ihrem Vater klar: Die Aufgabe der eigenen Heimat, das Verlassen seiner Mutter, die Aufgabe des Berufs, die gefährliche Fahrt mit dem Boot ins Ungewisse ist der letzte Ausweg.

Doch der Beamte, der verletzt aus dem Krieg nach Hause gekehrt war, befürchtete für sich und seine Familie das Schlimmste: Repressalien des vietnamesischen Regimes. Eine – leider – uralte Geschichte der Menschheit, wie schon der deutsche Philosoph und Essayist Hans Magnus Enzenberger in seinem Buch "Die Große Wanderung" vor Augen führte.

Alle - oder gar keiner

Heimlich und notdürftig baute ihr Vater mit seinem Schwager ein Boot. Anders als andere vietnamesische Flüchtlinge ging dann die ganze Familie an Bord. "Das war die Bedingung meiner Mutter", weiß Thi-Ngoc Tam Mucherl-Dang heute. "Sie hat meinen Vater vor die Alternative gestellt: Entweder alle oder gar keiner." Eigentlich wollten die Eltern von Malaysia nach Australien weiter.

Dass sie am Ende in Austria gelandet sind, sollte sich nicht als Nachteil erweisen. Denn es ist eine Geschichte, die zeigt, dass Fremde eine Bereicherung für jene sein können, die sich um deren Integration bemühen. Die in Vietnam geborene Österreicherin erinnert sich an ihre Kindheit in Sankt Gertraud im Lavanttal. Die Gemeinde hat die Bootsflüchtlinge mit offenen Armen aufgenommen. Man öffnete ihnen das Haus neben der Pfarre, und half den sieben Kindern nicht nur mit Kleidung und Spielzeug, sondern auch mit Einladungen zu den eigenen Kindern.

Ihr Vater hat bald im Papierwerk in Frantschach Arbeit gefunden – eine Hilfsarbeit zwar – aber eine legale. Ihre Mutter war sehr dahinter, dass alle sieben Kinder eine Schulausbildung genießen. Es ist durchaus möglich, dass sich die Bewohner von Sankt Gertraud zu Beginn der 1980er-Jahre nicht auf moderne Migrationsstudien berufen haben, und eher ihrem Bauch- und Mitgefühl gefolgt sind.

Gut integriert

Jedenfalls haben sie viel richtig gemacht. Thi-Ngoc Tam Mucherl-Dang hat in Salzburg studiert und ist später nach Wien gezogen, wo sie seit zehn Jahren in der Medienbranche tätig ist. Ihr ältester Bruder arbeitet als OP-Gehilfe im Krankenhaus, der zweitälteste führt in Salzburg ein asiatisches Restaurant, ihr jüngster Bruder ist EDV-Administrator, die beiden Schwestern haben im Außenministerium gearbeitet, eine lebt heute in New York.

Die Geschwister der Familie Dang bestätigen Erkenntnisse von Resilienz-Forschern. Resilienz ist die Fähigkeit, die es Menschen ermöglicht, Schicksalsschläge gut zu verarbeiten. Im Rahmen einer Studie zeigte sich, dass die Kinder vietnamesischer Boatpeople in den USA trotz schwieriger Lebensumstände bei allen Leistungstests besser abschneiden als Kinder der Mittelschicht.

Bildung ist für Menschen mit Migrationshintergrund ein zentrales Gut, beweisen auch Studien der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Die Frage ist daher, warum das Beispiel Sankt Gertraud nicht Schule macht. Vielen minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen bleibt in Österreich weiterhin eine Ausbildung verwehrt.

Ob Kriege oder Hunger aufgrund von Missernten, politische Verfolgung oder wirtschaftliche Not, Umweltkatastrophen oder fehlende Lebensperspektiven – Menschen mussten immer schon ihre Heimat verlassen.

Bereits in der vorchristlichen Bronze- und Eisenzeit gab es zwischen einzelnen Stämmen Kriege. Dabei ging es um Jagdreviere, Siedlungsgebiete, aber auch um Frauen als Fortpflanzungspartner. Die Überlebenden des unterlegenen Stamms mussten danach ihre Heimat verlassen und sich an anderer Stelle niederlassen.

In der Bibel wird ebenfalls die Flucht thematisiert: So wird Moses von Gott auserkoren, das Volk Israel von seinem Sklavendasein in Ägypten zu befreien. Moses führt sein Volk in das gelobte Land.

In der Antike beginnt dann die systematische Vertreibung von Volksgruppen aufgrund ihres Glaubens und ihrer eigenständigen Kultur. Auch das Ende des Römischen Reichs und der Beginn des Mittelalters ist im Zusammenhang mit massenhaften Flüchtlingsbewegungen zu sehen. Diese werden mit dem eher verharmlosenden Begriff „Völkerwanderung“ zusammengefasst:

In Wahrheit begaben sich viele germanische Stämme auf die Flucht in Richtung Westen, aus Angst vor den Hunnen, einem Reitervolk aus Zentralasien, das bei seinen Eroberungszügen wenig zimperlich war.

Nach der Entdeckung Amerikas wagten Millionen Europäer eine gefährliche Schiffspassage über den Atlantik. Sie verließen ihre Heimat nicht aus purer Abenteuerlust. Religiöse Verfolgung (zum Beispiel der Protestanten nach der Gegenreformation) sowie Armut und Ausgrenzung zwangen viele zur Flucht.

Österreicher im Exil

Heute noch kann man ihre Nachfahren in den USA und in Südamerika antreffen. Bekannt ist zum Beispiel eine österreichische Sprachinsel namens Colonia Tirol (Espírito Santo) im brasilianischen Regenwald.

Auffallend viele Burgenländer gaben am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Heimat auf, um in Amerika ihr Glück zu versuchen. Vor dem Krieg und vor allem vor dem Terror der Nationalsozialisten sind dann ab März 1938 unzählige Österreicher geflüchtet, neben Menschen mit jüdischem Glauben vor allem demokratisch Gesinnte, darunter viele Intellektuelle.

Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts lösten weltweit gigantische Flüchtlingsströme aus. Heute ist Flucht und Verfolgung ein globales Phänomen. Schon öfter wurde das Mittelmeer zum Schauplatz menschlicher Tragödien. Unvergessen sind die Bilder der rostigen Kutter, mit denen Tausende von Albanern zu Beginn der 1990er-Jahren die Flucht über das Meer in den nur 80 Kilometer entfernten Westen (die süditalienische Hafenstadt Bari) wagten, ebenfalls unter unfassbaren Bedingungen. Beobachter der globalen Flüchtlingsströme halten fest, dass neben Armut und politischer Verfolgung zunehmend andere Fluchtgründe eine Rolle spielen: zum Beispiel Umweltkatastrophen, fehlende Lebensperspektiven, und Eingriffe in die Natur wie zum Beispiel Flussbegradigungen oder der Bau von Staudämmen.

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