Wenn Geschichte lebendig wird

Wenn Geschichte lebendig wird
Wer mit Großeltern, Tanten oder Eltern in die Vergangenheit blickt, erfährt viel über die Gegenwart.

Der Gugelhupf schmeckt trocken, so mögen wir ihn am liebsten. Der helle Teil im Kuchen ist viel größer als der Schokolade-Teil. Irgendwann hat eines von Omas sechs Enkerln gesagt, dass er so besser ist. Seitdem bäckt sie ihn so, immer gleich, jedes Mal. Auch heute.

Unzählige Male bin ich hier gesessen, auf der knarrenden Küchenbank, mit Oma und dem hellen Gugelhupf, im Hintergrund das vertraute Ticken der alten Kuckucksuhr. Es ist jedes Mal eine kleine Zeitreise in meine Kindheit, als ich statt Kaffee Kakao trank und so lange aufbleiben durfte, wie ich wollte, auf dem eigens errichteten Matratzenlager im Wohnzimmer. "In einem Wohnzimmer muss gelebt werden", sagte Oma gern, wenn wieder einmal Chaos ausgebrochen war.

Wenn Geschichte lebendig wird
Das sind meine Kindheits-Erinnerungen. Oma ist 78, sie hat ganz andere. "Alltägliche Dinge", meint sie, als sie erzählt. Von dem Fliegerangriff, den sie als neunjähriges Mädchen nur knapp überlebte und der ihr bis heute den Appetit raubt. Von der einfachen Puppenküche aus Karton, die für sie eine "Sensation" war. Von der Tante aus Wien, die in der Nachkriegszeit zu Besuch aufs Land kam und den Kindern Zuckerln aus Karamell mitbrachte. Von einer Zeit, die für mich und meine Generation alles andere als alltäglich ist.

Bruchstücke

Die Geschichte mit dem Fliegerangriff habe ich schon oft gehört. Doris Tropper überrascht das nicht. Die Journalistin hat ein Buch über das Bewahren von Erinnerungen geschrieben. Bei ihrer Arbeit in einem Hospiz hatte sie festgestellt, dass viele alte Leute mit den Jahren "Trauerberge" ansammeln, die sie nie verarbeitet haben.

"Sie werden von Ereignissen ihrer Kindheit oder Jugend heimgesucht, die sie nicht loslassen. Es ist, als würden sie einzelne Scherben in der Hand haben – Bruchstücke ihrer Vergangenheit." Für die ältere Generation sei es daher besonders wichtig, über diese Erinnerungen reden zu dürfen – um loszulassen, zur Ruhe zu kommen, vielleicht auch, um zu verzeihen.

Dabei sollten nicht nur dramatische Erlebnisse thematisiert werden, erklärt Tropper. "Lustvolles, Interessantes, Schönes sollte genauso festgehalten und weitergegeben werden." Auch meine Oma erzählt nicht nur Tragisches. Wie oft haben wir über die Geschichte gelacht, als sie mit Anfang 20 einem Verkehrspolizisten erklärte, warum sie barfuß Auto fuhr. Die für die 1950er-Jahre typischen Pfennigabsätze behinderten das Fahrgefühl, sagt Oma. Oder, wie sie als 18-Jährige einen landesweiten Lehrlingswettbewerb gewann und als Belohnung das Wiener Ronacher besuchen durfte.

Mit dem Festhalten solcher Episoden könne man ruhig schon früher beginnen, rät Tropper, zum Beispiel anlässlich eines runden Geburtstages oder aktueller Urlaubsfotos. Die Autorin unterscheidet zwischen visuellen und haptischen Erinnerungstypen sowie solchen, die besonders gut auf Gerüche reagieren. "Stellen Sie sich einmal im Frühling unter einen Fliederstrauch und atmen Sie den Duft ein. Bestimmt kommen einige Erinnerungen hoch."

Wurzeln begreifen

Wenn ich mit meiner Oma auf der Küchenbank sitze, Gugelhupf esse und ihr zuhöre – so wie heute –, lerne ich nicht nur ein Stück Zeitgeschichte, sondern nehme auch viel für mich selbst mit. Auch Doris Tropper betont, dass nicht nur die Erzähler vom Weitergeben ihrer Erinnerungen profitieren. "Wenn man zuhört, wie die Großeltern gelebt – teilweise überlebt – haben, kann man viel für sein eigenes Leben lernen. Das ist lebendige Geschichte! Man begreift die eigenen Wurzeln, versteht sich selbst besser."

Ich gebe zu – manchmal würde ich mich mit Oma lieber über Herzogin Kates Garderobe unterhalten als über düstere Weltkriegsgeschichten. Und doch bin ich froh, diese zu kennen. Denn irgendwie sind Omas Erinnerungen auch ein Teil von meinem Leben.

Aufschreiben Stellen Sie sich folgende Fragen und bringen Sie die Antworten zu Papier: Was war das prägendste Ereignis in meinem Leben? Welche Abenteuer und Erlebnisse hatte ich als Kind? Welche ist meine schönste Urlaubserinnerung?

Karteikasten Ordnen Sie in einem Karteikasten mit Trennblättern verschiedene Kapitel in Ihrem Leben, z. B. "Spiele der Kindheit", "altes Lieblingsgewand" oder "mein erster Arbeitsplatz". Notieren Sie auf der Rückseite die Namen der abgebildeten Personen, Ort und Zeit.

Jahresplan Notieren Sie alle zwölf Monate und was Ihnen dazu einfällt, z. B. Mai – Pfingstrosen – oder September – Altweibersommer. Überlegen Sie dann, was Sie im vergangenen Jahr in den jeweiligen Monaten erlebt haben.

Erinnerungskoffer Packen Sie einen Koffer (eine Kiste) für eine Reise in die Vergangenheit – mit persönlichen Gegenständen wie einem alten Teddybären, dem Hochzeitsbild der Großmutter, dem ersten Milchzahn oder stichwortartigen Notizen.

Erntewagen & Müllabfuhr Zeichnen Sie einen symbolischen Erntewagen und notieren Sie darin Ihr erfolgreichstes Projekt, bestandene Abenteuer oder Engagement für eine gute Sache. Im "Müllwagen" werden negative Erinnerungen aufgeschrieben und "abtransportiert".

"Was soll ich erzählen, ich hab’ ja nichts Besonderes erlebt." Gerade hinter solchen Sätzen verstecken sich die interessantesten Geschichten, findet Günter Müller. "Die unterschiedlichen Typen und Lebenserfahrungen sind faszinierend."

Der Soziologe leitet am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Uni Wien die "Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen", die 1983 gegründet wurde. In diesem Archiv befinden sich mittlerweile autobiografische Manuskripte von 3500 Personen aller Bevölkerungsschichten, ausgehend von 1750.

Maria Gremels Erinnerungen begründeten die Sammlung mit. 1902 geboren, war sie – wie damals vielfach üblich – mit neun Jahren zu fremden Bauern "in Dienst" gekommen. Mit heute unvorstellbaren Belastungen für Kinder: "Früh auf und spät nieder, iss’ schnell und geh’ wieder", schrieb sie.

Forschungszweig

Das Manuskript für ihre Familie gelangte zufällig in die Hände des Historikers Univ.-Prof. Michael Mitterauer. Er beschäftigte sich an der Uni Wien mit dem in den 1970er-Jahren in den USA entstandenen Forschungszweig "Oral History" – heute der Fachbegriff für erzählte Lebensgeschichte. Solche Dokumente sind heute als Quellen nicht mehr wegzudenken. Müller: "Auf universitärer Ebene haben wir ein Netzwerk aller, die so arbeiten, etwa Zeitgeschichtler, Volkskundler oder Germanisten." Als Forscher müsse freilich Distanz gewahrt werden. "Man muss bedenken, die Ereignisse werden erst nach Jahrzehnten aufgerollt. Da präsentiert man sich und die Dinge vielleicht schon etwas anders." Über die Jahre habe sich eine wissenschaftliche Frage-Praxis etabliert. Und: "Man bekommt ein Gespür für Lücken und Auslassungen."

Ob in Oral-History-Interviews erfragt oder selbst niedergeschrieben: Kindheit und Jugend sind meist sehr präsent. Das liegt für Müller nicht allein an dieser für jeden prägenden Lebensphase. "Viele wollen auch festhalten, was ihre eigenen Kinder noch nicht miterlebt haben."

Buchreihe

Solche Erinnerungen sind aber nicht nur für die eigene Familie interessant. Aus Maria Gremels Manuskript entstand der erste Band der Buchreihe "Damit es nicht verloren geht ..." (Böhlau Verlag). Die Reihe wurde zum Erfolg. Manche der mittlerweile 68 Bände handeln, wie Gremels "Mit neun Jahren im Dienst", von einer Einzelperson. Andere erschienen mit mehreren Autoren als Sammelbände zu speziellen Themen – etwa Erinnerungen von Knechten, Mägden oder ledigen Müttern. Viele Lebenserinnerungen sind aber auch im Internet vertreten (www.menschenschreibengeschichte.at). "Das ist"unser Schaufenster", sagt Müller.

Auch wenn sich manches in den einzelnen Lebensgeschichten wiederholt: Die Auswahl ist nicht immer einfach. "Es ist schwierig, sie repräsentativ zu gestalten. Es imponiert mir immer wieder jemand. Wie ein Mensch erzählt, sagt viel über ihn und sein Umfeld aus."

Info:Für das Forschungsprojekt "Bildung im Lebenslauf" werden derzeit Lebenserinnerungen gesammelt, 01/4277- 41306.

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