Wir leben im Zeitalter der "Gebraucht-Erde"
Wie viel echte Wildnis gibt es weltweit überhaupt noch? Das fragten sich Forscher vor zwei Jahren und begannen, in mühsamer Kleinarbeit Satellitenbilder auszuwerten. Grüne Wälder, tiefblaue Seen, unberührte Wüsten. Wer heranzoomt erkennt: Städte, Industriebrachen, Müllkippen, Weiden, Äcker, Forstplantagen, Straßen, Bergbaugebiete, Stauseen.
Je mehr Aufnahmen Erle Ellis durch sein Programm jagte, desto klarer wurde dem US-Geograf, wie tief greifend der Planet bereits vom Menschen verändert wird. Auf drei Viertel der Landfläche fand Ellis optisch erkennbare Spuren menschlicher Interventionen. Nur im Hochgebirge, in den Wüsten, an den Polen und in einigen Urwaldgebieten findet sich noch Wildnis. Sofern man verschweigt, dass auch dort aus der Luft synthetische Chemikalien und Rußpartikel niedergehen.
Die Natur ist vom Menschen gemacht
Ellis argumentiert: Eine "Gebraucht-Erde" sei im Entstehen, ein Gebilde aus zweiter Hand. "Es ist veraltet, die Erde als natürliches Ökosystem zu sehen, das von Menschen gestört wird. Vielmehr ist die Erde bereits ein Humansystem mit eingebetteten natürlichen Ökosystemen geworden." Natur ist mittlerweile vor allem Menschenwerk. Der Planet wird nie wieder derselbe sein.
Stille im Saal. Eine Menschheit, die nicht nur an der Oberfläche der Natur kratzt, sondern sie tief greifend, global und langfristig verändert? Crutzens Idee breitete sich rasch aus. Forscher benutzen den Begriff Anthropozän in ihren Studien längst so, als wäre er der offizielle Name unserer Zeit. Ob künftig auch in Geologie- und Schulbüchern "Anthropozän" stehen wird, wird die Internationale Kommission für Stratigraphie demnächst entscheiden.
"Mikrofasern aus unseren Outdoorjacken finden sich in den Ozeanen"
In der 39 Forscher umfassenden Arbeitsgruppe aus Erdwissenschaftlern und Biologen sitzt auch der österreichische Geologe Michael Wagreich: "Die Produktion von Materialien, die es zuvor überhaupt nicht gegeben hat – Beton, Plastik, Aluminium –, ist stark angestiegen und mittlerweile in den Sedimenten nachweisbar. Und das sogar in den Ozeanen bis in mehrere Tausend Meter Tiefe. Unglaublich: Mikrofasern aus unseren Outdoorjacken finden sich ebenfalls dort", sagt er.
Der Mensch produziert 13 Gigatonnen Beton jährlich
Sofern es denn das Holozän, das vor 11.700 Jahren mit dem Ende der letzten Eiszeit begann, auch offiziell ablöst. Das soll auf einem geologischen Kongress im August 2016 in Kapstadt entschieden werden, sagt Wagreich und argumentiert mit "langlebigen Spuren" für das neue Erdzeitalter. Beispiel: "Die jährlich vom Mensch produzierte Menge an Beton ist mit 13 Gigatonnen mittlerweile gleich groß wie jene an Sedimenten, die Jahr für Jahr natürlich von allen Flüssen der Welt verfrachtet werden. Das ist schon ein Zahlenwert, der einem zu denken gibt."
Als die Atombombe explodierte
"Wir müssen dringend zu Hütern und Bewahrern des Erdsystems heranreifen."
Wagreich ist dafür, den Beginn des Anthropozän früher anzusetzen. "Früher heißt: 3000 vor heute, da gab es schon den ersten Bergbau, Ackerbau, Müllhalden ..." Und weiter: "Das Anthropozän ist zu einem Symbol geworden – für menschliches Eingreifen. Der Begriff dient der Bewusstseinsbildung; dafür, dass das System Erde überaus komplex ist und wir es noch immer nicht verstehen." – Oder wie sein Erfinder Crutzen es formuliert: "Wir müssen dringend zu Hütern und Bewahrern des Erdsystems heranreifen."
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