Roncalli 1976: Fasching und Silvester zugleich
Der Duft von Zuckerwatte liegt in der Luft, vermischt mit Weihrauch und dem Geruch heißer Menschenkörper. Stelzengeher bahnen sich einen Weg durch die Menge, beugen sich herab, streichen den Besuchern über die Köpfe. Frauen in Glitzer-Kleidern und mit Tiermasken blasen Menschen Seifenblasen ins Gesicht und tupfen ihnen Patschuli hinters Ohrläppchen.
Als vor 40 Jahren der Circus Roncalli die Wiener verwirrte und begeisterte, war Elisabeth Marek dabei. "Wie kleine Kinder drängelten sie sich vor dem Zuckerwattestand. Und wie die biederen Bürger staunten, was dort alles geschah. Es war ein zirzensisches Spektakel." Wenn die 76-Jährige heute davon erzählt, berührt sie die Handoberfläche ihres Gegenübers, als würde sie wieder duftendes Patschuliöl verteilen. 1976 arbeitete und lebte sie mit ihrer fünfeinhalbjährigen Tochter Angelika ein halbes Jahr im Roncalli. Und war Teil des "fahrenden Volks".
Wie es dazu kam, erzählt die Wienerin bei einer Melange in einem Kaffeehaus an der Ringstraße. Hier an der Fensterbank fühlt sie sich wie in der Zirkus-Loge. Und denkt zurück an jenen Tag, an dem sie zum ersten Mal die Manege betrat. Es war nicht glamourös.
Traumwelt
Was hier entsteht, lässt sich nur erahnen: eine Traumwelt im Stil der Zwanzigerjahre, keine gewöhnlichen Nummern, ein Spektakel mit viel Poesie. Wo junge Frauen – eine studierte Theaterwissenschaft, die andere war Bardame – als "Nummerngirls" durch die Manege spazieren, als würden sie jemanden um Feuer bitten. Dazu wird ein Theaterstück aufgeführt, geschrieben von Heller.
Im KURIER vom 10. März ’76 steht: "Wenn Heller über Feuer spricht, tritt ein Feuerschlucker auf, der auch über Feuer spricht, redet der Engel (ein kostümierter Jüngling) über Luft, dann kommen Trapezkünstler."
Zwischen den langhaarigen Jünglingen und ungeschminkten Clowns trifft Elisabeth Marek auf einen Bekannten. Er fragt, ob sie hier eine Zeit lang mitarbeiten will. Am 1. Mai sei Premiere und es gebe noch viel zu tun. Die alleinerziehende Mutter arbeitet damals in einem Büro. Sie ist erstaunt, will aber darüber nachdenken. Mit ihrer Tochter spaziert sie über das Gelände. Vor einem Holzwagen mit abgeblätterter Farbe und windschiefen Reifen bleiben sie stehen. Das Mädchen sieht zur Mutter auf: "Mama, einmal möchte ich in einem Zirkuswagen wohnen!"
Was spricht dafür, was dagegen – in ihrem Kopf legt sie geistig eine Kartei an. Angelika ist noch nicht schulpflichtig, warum ihr also nicht ein paar freie, schöne Monate schenken? Abseits von Alltag und Großstadt. "Es werden mehr Kinder vom Auto erfasst, als vom Löwen gefressen." Elisabeth Marek argumentiert und überlegt, als müsste sie heute wieder eine Entscheidung treffen.
Von ihren Eltern, Wiener Bildungsbürger mit Hang zum Künstlerleben, bekommt sie Zuspruch. Freunde zweifeln: "Hast du daran gedacht, dass deine Tochter Seiltänzerin werden will? Was wird aus der Wohnung?" Marek: "Ich habe ihnen gesagt: Die Biedermeiermöbel werden nicht rostig, wenn ich ein halbes Jahr nicht da bin. Und Angelika: Sie ist nicht schwindelfrei und will derzeit Tierärztin werden."
Dorfleben
Zirkuskind
Elisabeth Marek hält ein Buch in ihren Händen und Fotos, auf denen Angelika verkleidet vor dem Wohnwagen sitzt. "Sie durfte so vieles, hatte so viel zum Schauen. Ich glaube, dass sie manchmal gar nicht mit dem Träumen nachkam."
Erst als die Büroarbeit erledigt ist, kommt Elisabeth Marek in die Maske. Abends schlüpft sie in die Rolle der Animateurin. Im Paillettenkleid mit Glitzer an den Wangen verkauft sie Zuckerwatte und streicht Besuchern Goldfarbe ins Gesicht. "Es war eine magische Stimmung, voller Kreativität und Träume." Aber auch voll Disziplin. Obwohl nach Vorstellungsende erst um halb zwei gegessen wird, müssen viele Künstler früh aufstehen und proben. Der Feuer- und Degenschlucker. Der Löwenbändiger, der mit seinen Raubkatzen spricht, als wären sie feine Damen. Oder der 28-jährige Akrobat, der sein 25-jähriges Berufsjubiläum feiert.
Ihre schönste Erinnerung hat sich die 76-Jährige bis zum Ende des Gesprächs aufgehoben. Wenn sie vom großen Finale erzählt, bewegen sich ihre Hände mit. Sie entführt einen zum Ende der Vorstellung: Konfetti rieselt auf die Köpfe der Menschen. Die Zirkusmusiker stimmen den Walzer an: "Es war wie Fasching und Silvester zugleich. Um Mitternacht schnappten wir uns die Besucher und tanzten mit ihnen in der Manege." Darunter auch prominente Gäste. "Ich sagte zu einem, sie sehen aus wie Leonard Bernstein. Und er antwortete: ‚My dear, der bin ich.‘"
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