Xavier Dolan: "Alle meine Filme sind hysterisch"

Gaspard Ulliel als Todkranker in "Einfach das Ende der Welt"
Regisseur Xavier Dolan über sein herrlich exzentrisches Familienporträt "Einfach das Ende der Welt".

Xavier Dolan, 27, galt lange als das Arthouse-Wunderkind des franko-kanadischen Kinos. Kritiker liebten es, ihn zu hassen. Seine Filme sind hysterisch, laut, überbordend und radikal subjektiv. Schon mit seinem räudigen Erstlingsfilm "I Killed My Mother" warf er 2009 das Publikum in Cannes um und erhielt acht Minuten Standing Ovations. Er selbst spielte in seinem Debüt die Hauptrolle des rebellischen, schwulen Teenagers, der sich durch die Hassliebe zu seiner alleinerziehenden Spießer-Mutter selbst andauernd zur Weißglut bringt.

Später gab er zu, dass seine Beziehungsstudie autobiografische Züge trug – was vor allem für seine Mutter eine wenig schmeichelhafte Ansage gewesen sein dürfte.

Mit dem überschäumenden Frauenporträt "Mommy" (2014), das ebenfalls in Cannes Premiere hatte und mit Jean-Luc Godards "Adieu au langage" den Preis der Jury teilte, leistete er so etwas wie Abbitte: "Mommy" erzählt von einer starken, aber emotional instabilen Frau, die um eine Beziehung zu ihrem Sohn ringt.

Die Erwartungen waren hoch, als Dolan mit seinem nächsten Werk in Cannes anrückte: "Einfach das Ende der Welt" (derzeit im Kino) erzählt erneut mit lauter Stimme von einer dysfunktionalen Familie. Ein schwuler, 34-jähriger Mann (Gaspard Ulliel) kehrt nach zwölfjähriger Abwesenheit erstmals wieder zu seiner Familie in die französische Provinz zurück. Eigentlich will er seinen Verwandten mitteilen, dass er an Aids sterben wird, doch sie lassen ihn nicht zu Wort kommen. Dolan engagierte eine französische Star-Riege – von Marion Cotillard bis Vincent Cassel und Léa Seydoux – und drückte seine Kamera fast unerträglich nah an ihre Gesichter. Sein exaltiertes, aber auch kathartisches Familien-Schrei-Duell spaltete die Zuseher – ist aber gerade deswegen ausgesprochen sehenswert. In Cannes erhielt es den Großen Preis der Jury.

Ein Gespräch mit Xavier Dolan über Hysterie, Familie und warum er keinen Film über Väter machen will.

KURIER: Ihr Film "Einfach das Ende der Welt" ist sehr beklemmend erzählt. Machen Sie sich manchmal Sorgen, das Publikum könnte überfordert sein?

Xavier Dolan: Das sollte ich wohl, oder? (lacht). Natürlich denke ich darüber nach, ob ich den Zusehern vielleicht zu viel zumute. Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, was daran unzumutbar sein soll, Menschen zu zeigen, die verletzbar sind und enttäuscht von ihrem Leben? Menschen, die frustriert, verbittert und eifersüchtig sind und Schmerzen leiden? Das Leben ist nun einmal gewaltvoll, und wenn es Leute gibt, die noch nie jemanden schreien gehört haben oder sich davon irritieren lassen – die sollen sich andere Filme anschauen. Aber natürlich hoffe ich, dass der Film sein Publikum findet.

Mit Ihrem letzten Film "Mommy" haben Sie sogar ein sehr großes Publikum gefunden.

Xavier Dolan: "Alle meine Filme sind hysterisch"
Director Xavier Dolan, Grand Prix award winner for his film "Juste la fin du monde" (It's Only the End of the World), cries during the closing ceremony of the 69th Cannes Film Festival in Cannes, France, May 22, 2016. REUTERS/Yves Herman TPX IMAGES OF THE DAY
"Mommy" ist ein einziger Aufschrei, von A bis Z. Dieser Film ist kürzer, also gibt es weniger Schreie. Trotzdem scheint mir, als hätte es mein neuer Film schwerer. Vielleicht liegt es daran, dass die Charaktere, von denen ich hier erzähle, weniger einnehmend sind. Die Hauptfigur in "Mommy" ist eine Witwe, die ein Opfer ihrer Umstände ist, sich aber trotzdem nicht unterkriegen lässt. Man schließt sie automatisch ins Herz. In "Einfach das Ende der Welt" gibt es keine auf den ersten Blick einnehmenden Figuren, keine Witwen und keine süßen blonden Kinder. Man muss genauer hinschauen. Für mich ist aber alles da: Vincent Cassel als älterer Bruder mit seinen Verletzungen, Léa Seydoux als kleine Schwester mit Knutschfleck am Hals, die sich einredet, sie wohnt noch gern bei ihrer Mutter zu Hause... In meinen Augen gibt es viele Dinge, die meine Protagonisten liebenswert machen – aber ich seh’ schon ein, dass es für die Zuseher nicht so leicht ist wie bei "Mommy". Andererseits: Ich will die Dinge nicht leicht machen; ich will sie auch nicht schwer machen. In Wahrheit denke ich nicht darüber nach. Es hat mich echt überrascht, dass Leute diesen Film hysterisch nennen, weil er genauso hysterisch ist wie "Mommy". Alle meine Filme sind hysterisch.

Ihr Film beruht auf dem Theaterstück von Jean-Luc Lagarce aus dem Jahr 1990. Hat Sie der Stoff gleich beeindruckt?

Nein, gar nicht. Ich mochte ihn nicht, ich mochte die Figuren nicht und die Sprache auch nicht. Nichts davon hat mich berührt. Fünf Jahre später habe ich das Stück noch einmal gelesen – und auf einmal war alles da: die Gefühle, das Flüstern, die Stille, das Versprechen eines guten Films. Alles.

Was hat sich verändert?

Keine Ahnung, wahrscheinlich einfach das Leben. Im Filmgeschäft vergehen fünf Jahre wie im Flug. Ich glaube, die Zeit vergeht für jeden Menschen schnell, aber wenn man Filme macht, noch schneller. Man erlebt sehr viel in sehr kurzer Zeit und alles rinnt ineinander. Vier Jahre sind wie zehn – ich weiß also nicht, was sich geändert hat. Vielleicht war ich einfach nur blöd.

Wie bereiten Sie sich auf einen Film vor, in dem Sie so viel von Wut und Verwüstung erzählen?

Ich brauche mich nicht extra darauf vorzubereiten, um mir Wut vorstellen zu können. Ich empfinde selbst eine Menge Wut – und außerdem bin ich in einer ägyptischen Familie aufgewachsen. Ich bin halber Ägypter, das heißt, ich weiß, wie sich schreiende Menschen anfühlen (lacht), auch wenn es eigentlich gar keinen Grund zum Schreien gibt oder sie aus Liebe schreien – weil das gibt es auch (lacht). Ich stamme aus so einer Kultur, das war meine Kindheit und meine Erziehung, daher kann ich mich gut damit identifizieren. Gleichzeitig hat der Film nicht sehr viel mit meinem tatsächlichen Leben zu tun. Ich habe nicht so eine Familie, ich habe keine Geschwister. Wir haben auch keine Spannungen innerhalb der Familie, sondern sind sehr innig. Trotzdem steckt viel von mir in den Figuren, eine Menge Details aus meinem eigenen Leben. Denn wenn man nichts von sich selbst in seine Film steckt, wie kann es dann der eigene Film sein? Insofern liegen mir wahrscheinlich diese "dunklen" Themen, die Melancholie und die Nostalgie.

Die dysfunktionale Familie beschäftigt Sie in allen Ihren Filmen. Warum?

Ich denke, ich erzähle einfach von Dingen, von denen ich das Gefühl habe, dass ich sie kenne. Ich hatte nie "Familienkonflikte", aber ich hatte Konflikte mit meiner Mutter und mit meinem Vater. Mit dieser Erfahrung im Hinterkopf kann ich über dysfunktionale Familien erzählen.

Ihre Mutter bzw. eine Mutterfigur war schon mehrfach Thema in Ihren Filmen. Können Sie sich vorstellen, auch von einem Vater zu erzählen?

Nein.

Warum nicht?

Weil mich Vater-Figuren nicht inspirieren. Es ist wie eine Blockade – sie inspirieren mich einfach nicht.

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