"Wien vor der Nacht": Einzige Stadt mit antisemitischer Regierung

Spurensuche auf dem Zentralfriedhof: "Wien vor der Nacht"
Berührende Suche nach jüdischen Verwandten in Wien.

Wie eine Geschichte erinnern, die man selbst nicht erlebt hat? Die man nur aus Erzählungen, Filmen, Büchern und Fotos kennt?

Robert Bober, der Urenkel eines polnischen Juden namens Wolf Leib Fränkel, der in Wien lebte und starb, beginnt seine biographische Spurensuche in Wien – und blickt dabei durch die Linse von Max Ophüls: "La Ronde", Ophüls’ Verfilmung von Schnitzlers "Reigen", startet mit einem imaginären Wienbild um 1900, das eindeutig auf einer Studiobühne nachgebaut wurde. Bober bedient sich der fiktiven Konstruktionen einer Stadt, die er nicht nur in Filmen, sondern auch in der Literatur von Zweig, Schnitzler und Joseph Roth findet. Er verwebt seine Lektüren mit historischen (Film-)Aufnahmen und setzt sie mit den Fotos seiner ostjüdischen Verwandten in erzählerische Verbindung.

Gleichzeitig unternimmt er einen Rundgang durch das Wien der Gegenwart, besucht Kaffeehäuser und den Prater. Doch das Wien als Sehnsuchtsort vieler Juden aus der Generation vor der Jahrhundertwende ist nicht mehr zu finden. Dass es vielleicht ohnehin nur in der nostalgischen Erinnerung existierte, das deutet Bober durch einen Verweis auf Bürgermeister Karl Lueger an: Lueger machte aus Wien "die einzige Hauptstadt Europas, die von einer antisemitischen Partei geführt wurde". Allein diese Bemerkung ist im Angesicht der politischen Gegenwart frappierend.

Bobers gefühlsgeladene Memoiren arbeiten sich stark an den bekannten Stationen des Fin-de-Siècle-Wien ab und scheuen nicht den Weg durch touristische Trampelpfade. Doch gerade die konsequente Rückbindung an die eigene Familiengeschichte und das Schicksal von Wolf Leib Fränkel macht aus "Wien vor der Nacht" eine berührend private Erinnerung.

INFO: A/D/F 2016. 73 Minuten. Von und mit Robert Bober.

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