"Wien ist beautiful, aber nicht small"
Vielleicht muss Wien in den Rückspiegel schauen, um seine Modernität zu erkennen: Während die Stadt wächst, hitzige Debatten über Hochhäuser führt und an vielen Orten Raum für Start-Up-Unternehmen schaffen will, bleibt die touristische Wahrnehmung von Habsburgern und Lipizzanern dominiert.
2018 soll aber die Modernität Wiens im Mittelpunkt stehen: Mit dem Gedenken an den hundertsten Todestag von Egon Schiele, Gustav Klimt, Otto Wagner und Koloman Moser bestimmen Titanen der Epoche "Wien um 1900" das kulturelle Geschehen, der Republiksgründung wird ebenso gedacht. Der Wien Tourismus fährt dazu eine große Kampagne und erzählt in durchaus differenzierten Tönen von der Eposche der Wiener Moderne:
Zum Motto "Schönheit und Abgrund" erschien ein aufwändig gestaltetes Magazin, das mit Essays über Kunst und Design, aber auch über Kriegsbegeisterung und Antisemitismus den Ton vorgibt.
Nicht nur Dekoration
Klimt & Co sind zwar längst Zugpferde des Stadtmarketings – während aber bislang der Dekorationsaspekt dominierte, stellt sich heute vermehrt die Frage, ob der Geist der Epoche auch als Leitstern für die Gegenwart fungieren kann. Kettner plädiert dafür, auf die "natürlichen Stärken" der Stadt zu achten: "Wenn wir heute Nummer eins bei der Lebensqualität sind, hat das viel mit Social Design zu tun – der Bau der Hochquellen-Wasserleitung war Social Design, der Bau der Gemeindebauten ebenfalls. In der digitalen Welt glaube ich, dass Wien echtes Potenzial bei CultTech – also Technologie für Kulturinstitutionen – und als Marktplatz der Ideen besitzt, etwa mit dem Pioneers Festival."
Gegen den Kleingeist
Ein markanter Unterschied zum Wien um 1900 liegt freilich in der Struktur der Gesellschaft: Das damalige Großbürgertum, das mit dem Drang nach neuen Repräsentationsformen die Wiener Werkstätte, moderne Architektur und Künstler wie Klimt massiv förderte, gibt es nicht mehr. Bei der derzeitigen Erneuerung der Stadt vermisst Kettner vielmehr Willen zur Repräsentation: "Ich sehe dieses ,Small is beautiful‘ mit Sorge, weil es der Rolle der Stadt nicht gerecht wird. Wien ist ,beautiful’ aber es war niemals ,small. Es ist nie klein gedacht worden, und ich halte das für fatal. Eine Stadt muss sein, was man oft abwertend ,g’spritzt’ nennt: Sie ist manieriert, schlüpfrig, das Parkett ist ein anderes. Da müssen wir schauen, dass wir das nicht verlieren, gepaart mit einer unterentwickelten internationalen Ambition."
"Keine Müdigkeit"
In Wien selbst gäbe es durchaus noch Potenzial, die Wiener Moderne sichtbarer zu machen, sagt Kettner: "Wenn ich mir ansehe, wie etwa in Tschechien Privathäuser saniert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, dann können wir uns da noch etwas abschauen. Wenn ich mir etwas wünschen würde, wäre es, diesen Bereich mehr zu öffnen. Wir sitzen auf einem Berg von Juwelen und wissen’s nicht einmal."
Das Coffeetable-Magazin „Schönheit und Abgrund“, dessen Design einen Preis bei den „D &AD Awards“ erhielt, ist in der Versandabteilung von Wien Tourismus (Invalidenstraße 6, 1030) erhältlich und kann über info@wien.info bestellt werden (Versand nur außerhalb Wiens). Das Heft enthält u. a. Interviews mit Sammler Ronald Lauder und Nobelpreisträger Eric Kandel und viel Material zu „Wien um 1900“.
Ausstellungen
„Klimt ist nicht das Ende“, postuliert eine Schau im Unteren Belvedere (22. 3. – 26. 8. 2018). Das Wien Museum widmet sich Otto Wagner (15. 3. – 7. 10. 2018), das MAK würdigt gegen Ende des Jahres Koloman Moser (20. 12. 2018 – 22. 4. 2019). Das Jüdische Museum Wien stellt die wichtigen Salondamen der Zeit um 1900 vor – darunter Fanny von Arnstein, Sophie von Todesco, Berta Zuckerkandl (24. 4. – 30. 9. 2018).
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