Warum Streetwear plötzlich unser Leben prägt

Verantwortet ab nun die Männermode für das Luxuslabel Louis Vuitton: der US-Designer und DJ Virgil Abloh
Wie die Mode der Unterprivilegierten die Upperclass eroberte und Turnschuhe Statussymbol wurden

So weit, so Armenviertel: Weite Hosen, Kapuzen tief im Gesicht, darauf bunte Aufdrucke, dicke Turnschuhe. So sehen die Drogendealer aus den amerikanischen Gettos aus, die ihrer Kundschaft an der Straßenecke Crack verkaufen. Man erkannte an diesen Insignien traditionellerweise Kriminelle, Skateboarder oder Rapper.

Tempi passati: Am Dienstag gab das Luxuslabel Louis Vuitton bekannt, dass Virgil Abloh die Männermode des Hauses verantworten wird. Er ist nicht nur der erste Afroamerikaner, der einen solchen Topjob in der Mitte der versnobten High Fashion einnimmt, er ist auch der erste, der mit dem Kapuzenpulli zur Arbeit kommt.

Abloh ist gut vernetzt in der Hip-Hop-Kultur und betreibt das Streetwear-Label „Off White“, das Produkte wie dieses im Angebot hat: einen Baumwollpulli mit Mona-Lisa-Aufdruck, darunter das Wort „Temperature“. Kostenpunkt: 400 Euro. Das ist teuer, aber man hat Glück, wenn man überhaupt einen bekommt, denn die Stücke sind grundsätzlich ausverkauft. Noch heißer werden Ablohs Sneaker gehandelt, die er in losen Abständen in Koproduktion mit Nike auf den Markt bringt. Allein die Ankündigung eines neuen Modells lässt die Server glühen und die Blogs jubilieren.

Praktikum mit Kanye

Die ersten Schritte in der Modewelt unternahm er gemeinsam mit dem Rapper Kanye West, als die beiden 2009 im Modehaus Fendi ein Praktikum absolvierten. Der mehrfache Grammy-Gewinner West gründete daraufhin sein Label Yeezy, das teure Streetwear und von Adidas gefertigte Turnschuhe anbietet. Abloh arbeitete an kleinen, aber exklusiven Labels, die er oft mit Kooperationen aufpeppte: Je kleiner die Auflage, desto exklusiver. Turnschuhe aus solchen Kollaborationen haben mittlerweile Sammlerwert. Der teuerste Sneaker des Vorjahres war ein goldener Nike Air Jordan, der exklusiv in einem Pop-up-Store in New Orleans verkauft wurde. Er wechselte im Sammlermarkt um 3600 Dollar den Besitzer. Hinter all dem steckt eine Mischung aus künstlicher Verengung des Angebotes und einem beispiellosen Hype im Internet.

Aushängeschild Supreme

Als absolutes Aushängeschild in diesen Fragen gilt die 1994 in New York gegründete Streetwear-Label Supreme. Aus einem Shop im Szeneviertel SoHo wurde ein weltumspannendes Netz von Streetwear-Tempeln, die für regelrechte Tumulte sorgen, wenn neue Designs auf den Markt kommen. Vor vier Jahren musste die New Yorker Polizei die Straße räumen, als ein limitierter Nike-Sneaker bei Supreme verkauft werden sollte. 600 junge Leute in Kapuzenpullis und weiten Hosen blockierten die Straße, der Verkauf musste im Internet vollzogen werden.

Üblicherweise wandern Trends von einer wohlhabenden Elite in die Masse. Hier verhält es sich umgekehrt: Die Armenviertel diktieren den Reichen, wie sie gut auszusehen haben.

Warum Streetwear plötzlich unser Leben prägt

An Bord: Die Kunst

Die Kunstwelt ist schon lange mit an Bord. Kultfotografin Nan Goldin stellt für eine Kollaboration mit Supreme Fotografien zur Verfügung: „Ich kann kaum erwarten, einen Kapuzenpulli zu tragen“, erklärte die Künstlerin der Vogue . Sie wird eine der wenigen sein, denn die Stücke werden in Minuten in die ganze Welt verkauft werden.

Die Codes der Streetwear sind tief in der Hip-Hop-Kultur verankert, die ihrerseits die prekären Lebensumstände ihres Umfelds zum Gegenstand der Betrachtungen machte. Weite Hosen, die im Schritt hängen, sind etwa ein Verweis auf Gefängniskleidung, wo den Insassen der Gürtel abgenommen wurde – genauso wie Schuhbänder. Die berühmten Timberland-Stiefel, die von den Rappern getragen wurden, bis sie in Innenstadtlagen verkauft wurden, dienten als Arbeitsstiefel auf den Baustellen.

Und die Kapuzenpullis? Die dienten als Arbeitskleidung für Regalarbeiter in Tiefkühllagern.

Dass die Hip-Hop-Kultur irgendwann die Tempel der europäischen Luxuslabels entern würden, ist eigentlich nicht überraschend: Schon früh erkannten Designer wie Tommy Hilfiger, wie wertvoll die Werbung durch Rapper sein kann. Er sponserte in den 1990ern prominente Rapper. In den 80ern zahlte Adi das Run DMC.

Kulturelle Umverteilung von unten 


Etwas Bemerkenswertes passiert hier: Üblicherweise wandern Trends von einer wohlhabenden Elite in die Masse. Hier verhält es sich umgekehrt: Die Armenviertel diktieren den Reichen, wie sie gut auszusehen haben. Das ist übrigens nicht nur US-Kulturimperialismus. Die Streetwear ist beileibe kein amerikanisches Alleinstellungsmerkmal. Eines der aktuell teuersten Labels  betreibt  Gosha Rubchinskiy, ein russischer Designer und Fotograf. Die Stücke Rubchinskiys, die in den ausgesuchtesten Boutiquen internationaler Metropolen gehandelt werden, erzählen eine eigene Geschichte der Unterschicht: Die Trainingsanzüge und T-Shirts sehen so aus, als hätten osteuropäische Fußball-Hooligans ihre Freizeitkleidung liegengelassen. Auch hier ist der kulturelle Code von unten nach oben gewandert. 

Theorie-Krise

Was sagt das über die Gesellschaft aus? Zunächst einmal, dass die 1905 erschienene  Modetheorie  von Georg Simmel nur mehr in Teilen haltbar ist. Der Mit-Gründervater der modernen Soziologie hatte Modetrends auf das Bedürfnis der höheren Schicht, sich durch die Äußerlichkeiten der Mode von niedrigeren Schichten zu unterscheiden, zurückgeführt. 

Das war schon bei Punk fraglich, der aber wesentlich von Modedesignern, also der Upperclass, mitgestaltet wurde. Abgewandelt stimmt jedoch dieser Satz Simmels: „Mode ist auch immer Klassenmode“. 
Ein dreiviertel Jahrhundert später legte der französische Sozialphilosoph Pierre Bourdieu eines seiner Hauptwerke mit dem selben Thema vor: In „Die feinen Unterschiede“  erörterte er, dass konkrete Ausprägungen von Geschmacksvorlieben als Folge des jeweiligen sozialen Status anzusehen seien. Als  wichtigste Triebfeder dient laut Bourdieu der Wille zur Abgrenzung, also zur Distinktion von anderen. Dabei setze meist die Oberschicht die Standards für die höher eingeschätzten Lebensstile. 

Kann sein. Aber heute vermag man mit einem Blick auf die Turnschuhe des Gegenübers nicht einmal mehr einigermaßen sicher das Urteil „neureich/altes Geld/arm“ anzustellen. 

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