"Wahre den Frieden": Oberammergauer Passion mit streitbarem Jesus

Frederik Mayet plays Jesus Christ at the 42nd Oberammergau Passion Play
Opulente Bilder und gewaltige Orchestermusik - Bayerisches Oberammergau ist ausnahmsweise erst nach zwölf Jahren wieder Schauplatz der Passionsspiele.

(Von Sabine Dobel, Britta Schultejans und Cordula Dieckmann/dpa)

Krieg, Flucht, Unterdrückung, Armut: Vor endzeitlich grauer Kulisse mahnt Jesus zur Umkehr, mal laut und energisch, mal verzweifelt an dieser Welt. Mit einer markanten Kreuzigung, vielen Bezügen zum Judentum und einer 2.000 Jahre alten leidenschaftlichen Botschaft bringt Spielleiter Christian Stückl die Geschichte vom Leben, Leiden und Sterben Jesu im bayerischen Oberammergau auf die Bühne.

Rund 4.400 geladene Gäste, darunter viele Prominente, sahen am Samstag in dem Gebirgsort die Premiere der berühmten Passionsspiele. "Wahre den Frieden", fordert Jesus beim Abendmahl Judas auf, als der frustriert Widerstand gegen die unterjochenden Römer verlangt: "Gott will, dass wir uns wehren." Die 2000 Jahre alten Bibelworte, die Frederik Mayet als unbeirrbar starker Christus Jüngern und Volk zuruft, bekommen in Zeiten des Ukraine-Krieges neue Wucht: "Selig die, die Frieden stiften." Und bei der Festnahme, als Petrus ihn verteidigen will: "Die das Schwert ergreifen, werden durch das Schwert umkommen." Immer wieder mahnt Jesus: "Kehrt um", "denkt um!".

Stückl, katholisch, führt mit kritischer Distanz zur Kirche durch die letzten Tage im Leben Jesu. Etwa lässt er nach der Auferstehung Jesus nicht mehr leibhaftig auf der Bühne erscheinen.

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Spielleiter Stückl, er inszenierte einst auch den Salzburger "Jedermann"

Spektakulär sind die Massenszenen wie bei der Verurteilung Jesu, ein Markenzeichen der Passion. Hunderte Menschen drängen sich auf der Bühne, fordern lautstark "Kreuzigt ihn!". Rund 2.100 Einheimische wirken bei dem knapp 400 Jahre alten Spiel mit, fast der halbe Ort, die Ältesten über 90, die Jüngsten auf dem Arm der Eltern. Auch Flüchtlingskinder sind dabei. Dazu Pferde, Kamele, Schafe, Ziegen, Hühner und Tauben, die durchs offene Theaterdach flattern. Stückl, Meister großer Szenen, spielt mit dem Chaos und stiftet zugleich Ordnung.

Gelübde

1633 hatten die Oberammergauer ein Gelübde abgelegt, um die Pest abzuwenden. Seither bringt das oberbayerische Alpendorf alle zehn Jahre monumental das "Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus" auf die Bühne, eine beeindruckende Leistung von Laien-Darstellern, Musikern und Solisten. Dieses Mal verzögerte Corona alles um zwei Jahre. Nach einigem Bangen zur Premiere nun volles Haus - vor wenigen Monaten noch undenkbar.

Der Oberammergauer Jesus erhebt die Stimme gegen Krieg, Gewalt, Ausbeutung und Diskriminierung - und fordert die Auseinandersetzung heraus. Auch wenn die Diskurse im Hohen Rat oder unter den Jüngern mit und um ihn sich hin und wieder etwas in die Länge ziehen: Es wird inbrünstig diskutiert - so wie es viele auch von der Kirche wünschen.

Den Frauen schafft Stückl mehr Platz. Er lässt die Frau des Pilatus auftreten und stärkt die Rollen von Maria, Maria Magdalena und Veronika. Andrea Hecht spielt die Maria als besorgte Mutter, die mit sich ringt, dem Sohn sein eigenes Leben zu lassen.

Es ist Stückls vierte Inszenierung. Seit 1990 hat er das Stück konsequent von christlichen Anti-Judaismen befreit. Jesus trägt wie die Jünger Kippa und ist unübersehbar gläubiger Jude. Beim Brotbrechen spricht er den Segen auf Hebräisch, dazu erklingt das gesungene "Schma Israel", eines der wichtigsten Gebete der Juden. Und am Kreuz ruft er zu seinem Vater: "Eloi, eloi, lama Sabachtani (mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen)." Das alles setzt auch angesichts immer neuer antisemitischer Auswüchse ein Zeichen.

Bei Stückl gibt es kein einfaches Gut und Böse. Er zeigt einen vielschichtigen Konflikt innerhalb der Juden unter der brutalen Herrschaft der Römer - angesichts der Ukraine, aber auch anderer Brennpunkte in der Welt aktuell wie nie.

Die Jünger sind keineswegs immer einer Meinung mit Jesus. Besonders mit einem neu gedeuteten Judas geht Jesus in den Diskurs. Nachwuchstalent Cengiz Görür zeigt einen Judas mit starkem Gerechtigkeitssinn, der nicht einfach nur ein geldgieriger böser Verräter ist. Erstmals hat Stückl mit Görür und Abdullah Karaca zwei Oberammergauern muslimischen Glaubens Hauptrollen gegeben. Unterhaltsam kommt ein hedonistischer Herodes daher, wortgewaltig Stückls Vater Peter als Hohepriester Annas.

Das ganze Stück spielt in einer Tempelanlage (Bühne Stefan Hageneier) als religiösem und politischem Zentrum Jerusalems. Einen Kontrapunkt zum kargen Bühnenbild setzen die opulenten lebenden Bilder mit Schlüsselszenen aus dem Alten Testament. Sie sind wie eine Erinnerung Jesu an die Schriften seiner Ahnen: die Vertreibung aus dem Paradies, das Goldene Kalb oder der brennende Dornbusch. Chor und Orchester, unter Leitung von Markus Zwink begleiten diese Bilder mit teils herausragenden Stimmen.

Das kleine Dorf lebt diese Spiele mit Leidenschaft - und begeistert damit Gäste aus aller Welt. Bis zu 450.000 Besucher werden zu gut 100 Vorstellungen erwartet, sehr viele aus dem Ausland.

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