Ulrich Seidl: Der Provokateur im Gespräch

Ulrich Seidl: Der Provokateur im Gespräch
Der österreichische Filmregisseur spielt demnächst bei den Wiener Festwochen und in Cannes in der Königsklasse der Kultur.

Ulrich Seidl hat einen starken Auftritt: Die Filmfestspiele von Cannes haben seinen Film "Paradies: Liebe" in den Hauptwettbewerb eingeladen. Und für die Wiener Festwochen in Kooperation mit den Münchner Kammerspielen probt er sein zweites Bühnenstück "Böse Buben/Fiese Männer", das auf Texten von David Foster Wallace’ "Kurze Interviews mit fiesen Männern" basiert und ab 5. Juni zu sehen ist. Ein Gespräch über Sextourismus, Keller und das Alter.

KURIER: Herr Seidl, Sie proben gerade ein Bühnenstück, das auf Texten von David Foster Wallace’ "Kurze Interviews mit fiesen Männern" basiert. Darin geht es um männliche Gewaltfantasien, Sexualität und Perversion. Erwarten Sie einen Skandal?

Ulrich Seidl: Das ist schwer abzuschätzen. Aber ich habe noch viel härtere Sachen aufzufahren, als nur die Wallace-Texte (lacht). Wenn beispielsweise einer meiner Darsteller, René Rupnik, seine selbst erarbeiteten Texte spricht, wird es noch viel ungeschönter. Rupnik ist ein verschrobener, aber durchaus gebildeter Mensch, und ob er über Atomphysik spricht oder über das weibliche Geschlecht, ist bei ihm einerlei. Das macht seine Monologe interessant, aber auch verstörend. Ich kann mir gut vorstellen, dass das etliche Leute nicht aushalten werden und gehen.

Was hat Sie denn an den fiesen Männern von Wallace interessiert?
Das Männer-Thema: Männer sprechen über ihre Abgründe, vor allem über ihre sexuellen Obsessionen. Außerdem arbeitet Wallace ähnlich wie ich: Er changiert zwischen Tragik und Komik. Seine Texte sind sehr beklemmend, gleichzeitig aber auch unglaublich lustig.

Was für eine Rolle hat bei Ihnen das Publikum?
Bei Wallace reden die Männer mit fiktiven Partnern oder Partnerinnen. Auf der Bühne sprechen die Schauspieler ins Publikum. Das ist mir ganz wesentlich: Dass man sich als Zuschauer direkt angesprochen fühlt.

Fühlen Sie sich von fiesen Männern angesprochen?
Ich glaube, dass in jedem von uns Abgründe stecken, also auch in mir. Das ist einfach so. Was da zur Sprache kommt – so denken Männer und so erleben sie ihre Sexualität. Da kann man sich nicht ausnehmen, weil man sich sonst selbst verleugnet.

Frau im Sexurlaub

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Ihr neuer Film "Paradies: Liebe" wurde nach Cannes eingeladen. Es geht um eine ältere Frau, die in Kenia Sexurlaub macht. Ist sie fies?
Nein, das ist etwas ganz anderes. In "Paradies" sucht die Frau Liebe und Geborgenheit bei einem Mann.

Ist das nicht ein altes Klischee? Männer suchen Sex, Frauen Liebe?
So würde ich es nicht sagen, aber ich glaube schon, dass die Männer anders gesteuert sind – dass der Trieb vorrangig ist.

Machen Frauen anders Sextourismus als Männer?
Vielleicht betreiben Männer den Sextourismus offensiver und "gründlicher". Die Frauen hingegen, die nach Kenia fahren, suchen hauptsächlich den "einen" – insofern stimmt das Klischee.

Frauen haben also keine Lust, Sex zu kaufen?
So, wie das in "Paradies" erzählt wird, geht es nicht um Prostitution im klassischen Sinn. Die Frauen gehen dort an den Strand, lernen jemanden kennen, der ihnen die Umgebung zeigt und so weiter. Das ist alles ganz anders eingepackt. Natürlich geht es letztendlich um Geld, und natürlich ist das Geschäft ganz klar: Die Frauen bekommen Zärtlichkeit von einem jungen Mann, der sie schön findet, obwohl sie vielleicht schon älter sind und einen Körper haben, der nicht mehr so attraktiv ist. Irgendwann heißt es dann vom Mann: Ich brauche Geld, weil meine Mutter krank ist oder mein Schwager einen Unfall hatte. So funktioniert das. Ich finde das nicht verwerflich, weil sowohl die Männer, als auch die Frauen auf ihre Kosten kommen. Aber kann man sich natürlich schon fragen, warum es Frauen in unserer Gesellschaft notwendig haben, ihre Erfüllung woanders zu suchen.

Wie sind Sie überhaupt auf dieses Thema gekommen?
Tourismus ist schon seit 15 Jahren ein Thema für mich, weil man daran so gut den Zustand der Welt zeigen kann. "Paradies: Liebe" ist ein Teil einer Trilogie, die ursprünglich als ein Film mit drei Episoden geplant war. Erst im Schnitt wurden daraus drei einzelne Filme.

"Spezialist für österreichische Perversion"

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Sie arbeiten ja auch an einer neuen Doku über Keller. Worum geht es da?
Um das Verhältnis der Österreicher zu ihren Kellern. Der Keller ist ja auch vorwiegend Männer-Domäne und kann vieles sein: Freizeitkeller, Bastelkeller, Kellerbar – bis hin zu den Abgründen des Kellers, des Geheimen, des Verbrechens.

Da fallen einem gleich die Fälle Kampusch und Fritzl ein...
Als die Fritzl-Geschichte öffentlich wurde, haben mich internationale Medien gefragt, ob ich dazu ein Interview geben wollte. Ich habe "Nein" gesagt, und "Wie kommen Sie darauf?"

Wirklich? Sie gelten als Spezialist für österreichische Perversion?
Offensichtlich.

Waren Sie schockiert?
Es war mir wurscht. Aber dann habe ich mir gedacht, na gut, dann mach ich eben einen Film über Keller. Die Idee dazu hatte ich aber schon viel früher. Als ich für meinen Film "Hundstage" recherchierte, besuchte ich viele Einfamilienhäuser. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Kellerräume oft viel großzügiger angelegt sind als die Wohnräume. Es scheint, als würden sehr viele Leute gerne ihre Freizeit im Keller verbringen. Dort können sie machen, was sie wollen, und das Wohnzimmer oben bleibt unberührt.

Sie treten gemeinsam mit Michael Haneke in Cannes an – ein großer Erfolg. Ist die österreichische Filmpolitik auf dem richtigen Weg?
Der österreichische Film ist für dieses kleine Land und die geringen finanziellen Mittel im Vergleich zu anderen Ländern ganz großartig. Deutschland zum Beispiel, ein Land mit 80 Millionen Einwohner hat im Vergleich dazu, was den künstlerischen Film betrifft, weniger zu bieten. Das liegt auch daran, dass die Deutschen eine andere filmpolitische Entscheidung getroffen haben: Nämlich die – und das wollen einige Produzenten in diesem Land auch – dass man eine Filmbranche hat, in der bestimmte Leute gutes Geld verdienen. Denen ist es egal, ob die Filme künstlerisch reüssieren oder nicht – solange sie Geld bringen. Aber das österreichische Filmschaffen ist inzwischen wahnsinnig vielfältig geworden, auch wenn die Filmwirtschaft jahrzehntelang von Menschen bestimmt war, die das so nicht geplant hatten.

Hat Film in der heimischen Kulturlandschaft den Platz, der ihm gebührt?
In Österreich rangiert Film immer noch ziemlich unten, hinter Oper, Musik und Theater. Aber es ist nicht mehr wie vor zwanzig Jahren, wo die mediale Reflexion des heimischen Films meistens sehr abwertend war. Das hat sich geändert. Trotzdem sieht man eher selten einen österreichischen Politiker bei einer Filmpremiere.

Sind Sie über die Jahre milder geworden?
Ich finde nicht. Milder würde heißen, dass man die Dinge nicht mehr so unbestechlich anschaut. Das würde mir nicht gefallen. Vielleicht bin ich weiser geworden – das hat man wahrscheinlich an sich, wenn man älter wird. So ist beispielsweise der dritte Film meiner Trilogie, "Paradies: Hoffnung" ein für mich unüblicher Film geworden.

Unüblich inwiefern?
Er handelt von einem 13-jährigen Mädchen, das sich in einem Diätcamp in einen fast 60-jährigen Mann verliebt. Es ist eine verbotene Liebe, aber sie ist ohne Provokation erzählt. Man könnte diese Thematik auch sehr explizit darstellen, aber das tue ich nicht. Stattdessen ist der Film sehr einfühlsam, ohne Verstörung: Ein "Lolita"-Stoff, aber erzählt aus der Perspektive des Mädchens.

Sie werden heuer 60. Denken Sie über das Alter nach?
Darüber denke ich schon lange nach (lacht). Das Leben ist endlich, also denkt man über den Tod nach. Der Tod beschäftigt mich seit meiner Kindheit, schon deshalb, weil für mich der Suizid immer auch eine Möglichkeit war. Vielleicht kann man deswegen dann auch so unausweichlich sein. Man hat nichts zu verlieren.

Festivals: Abgründe in Cannes und Wien

Cannes
Ulrich Seidls Film "Paradies: Liebe" feiert am Freitag seine Uraufführung bei den internationalen Filmfestspielen in Cannes (16. bis 27. Mai).

Dort ist Seidl in guter (österreichischer) Gesellschaft. Auch Michael Hanekes neuer Film "Amour" – ein Kammerspiel über ein altes Ehepaar, mit Jean-Louis Trintignant und Isabelle Huppert – hat in Cannes Premiere. Damit konkurrieren heuer erstmals zwei Österreicher um die Goldene Palme.

Weitere Highlights beim Filmfestival sind u. a. Arbeiten von Wes Anderson, David Cronenberg und Leos Carax.

Festwochen
Für die Wiener Festwochen inszeniert Seidl sein – nach "Vater Unser" 2004 an der Berliner Volksbühne – zweites Bühnenstück: In "Böse Buben/Fiese Männer" (Premiere: 5. 6.) nach "Kurze Interviews mit fiesen Männern" von David Foster Wallace geht es, so Seidl "vor allem um Sexualität, Fantasien, Obsessionen, Abgründe, um männliche Versagensängste, Gewaltfantasien, Zwangshaltungen mit dem fetischisierten Keller als Ort der ungebremsten Überlegenheit, mit dem ganzen männlichen Dilemma in Beziehung zur Frau und zu anderen paranoiden Dominanzansprüchen."

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