Tocotronic: Viele Rückblicke, eine Utopie

Tocotronic mit Frontmann Dirk von Lowtzow (2ter v. re.)
Sänger Dirk spricht über homophobe Beleidigungen und kollektive Ängste.

"Hey du, was starrst du mich an? Bin ich was, das du nicht kennst? Oder mache ich dir Angst?"

In "Hey Du", einem der bewegendsten Songs des neuen Tocotronic-Albums "Die Unendlichkeit", erinnert sich Frontmann Dirk von Lowtzow an die Jugend, als er in der Fußgängerzone in Offenburg als "Schwuchtel" beschimpft wurde, Leute ihm Prügel angedrohten, "weil ich anders gekleidet war und mich anders bewegt habe".

Mit derart persönlichen Texten sagt der 46-Jährige dem früher für seine Texte typischen Verstecken hinter Analogien, Zitaten und Theoremen ade. "Die Unendlichkeit" ist ein autobiografisches Album, dass die emotionalen Stationen seines Werdegangs von der Kindheit "in der Provinz" bis heute nachzeichnet.

Zu viel preisgeben

"Als ich die Songs schrieb, hatte ich damit kein Problem", erzählt er im Interview mit dem KURIER. "Aber als wir dann ins Studio gingen und begannen, sie zu produzieren, hab ich ehrlich gesagt schon gedacht, ob ich da nicht doch ein bisschen zu viel von mir preisgebe. Denn als wir uns noch vornehmlich über den Umweg von Theoremen, Sprachspielen und Abstraktionen ausgedrückt haben, konnte man – wenn man kritisiert wurde – immer sagen, derjenige hat das nicht verstanden. Bei ,Die Unendlichkeit‘ gibt es nichts, was man nicht verstehen kann. Bei Kritik bekommt man dann aber das Gefühl, für das ganze Leben kritisiert zu werden. Und das ist furchteinflößend."

Entwickelt hat sich der verklausulierte lyrische Stil, den Tocotronic von Ende der 90er-Jahre bis jetzt gepflegt haben, aus den "manischen" Anfangsjahren der Band. "Da haben wir wie ein Durchlauferhitzer mit einem extremen Mitteilungsbedürfnis in zwei Jahren vier Alben mit Songs rausgebracht, die alle wie ein öffentliches Tagebuch waren, die alles aufgegriffen haben, was wir erlebt haben. Doch dann wollten wir uns verändern und hatten auch Angst, vereinnahmt zu werden, weil viele der Textzeilen zu Slogans wurden und in anderen Zusammenhängen auftauchten. Da war die Abstraktion befreiend."

Direkter

Beginnend mit dem "Roten Album" von 2015 kam das Umdenken. Da bekam von Lowtzow das Gefühl, einfacher und direkter schreiben zu wollen, sich mit sich selbst zu beschäftigen und den Ballast des theoretischen Überbaus abzuwerfen. Wobei von Lowtzow mit der persönlichen Rückschau auch ein Bild der Gesellschaft seiner Zeit entwirft. "Das hat mich eigentlich am meisten daran interessiert: Dass wir daraus keine Anekdotenschatzkiste meiner Jugend machen, sondern etwas Mitteilungswürdiges, das auch heute Relevanz hat."

Songs wie ,Hey Du’ ‘ sind für ihn heute "leider" aktueller denn je: "Wenn du heute anders gekleidet oder migrantischer Herkunft bist, bist du diesem Angestarrt-Werden und diesen Beleidigungen genauso ausgesetzt. Oder wenn in manchen Songs von Ängsten der Kindheit die Rede ist, wenn man Lichter auf dem Rummelplatz als bedrohlich empfunden hat, oder andere Kinder grausam waren, dann spiegelt das auch unser Zeitklima der Angst wieder!"

Gleich fügt von Lowtzow aber hinzu, dass er eine sehr glückliche Kindheit hatte. Das Bild, dass er häufig Angst hatte, sei vor allem dem Umstand geschuldet, dass er diesen Themen den Vorzug gab, weil er die Erinnerungen an damals in die Gegenwart transformieren und Privates mit Politischem vermischen wollte. Und: "Weil mein glücklicher erster Schultag als Songtext uninteressant gewesen wäre!"

Protestsongs

Hätte es ihn als deklarierten Linken nicht gereizt, dem politischen Zeitklima gerade jetzt statt Persönlichem dezidierte Protestsongs entgegenzusetzen?

"Da sind wir vom Lauf der Zeit überholt worden", sagt er. "Denn wir haben 2015 mit ,Die Unendlichkeit‘ und den autobiografischen Songs angefangen. Seither haben sich die politischen Zeitläufe rasant – und ich möchte fast schon sagen hysterisch – verändert. Wenn du damals gesagt hättest, jemand wie Trump könnte Präsident werden, hätte man dich für verrückt erklärt. Aber in einem Stück, in ,Mein Morgen‘, beschreibe ich sehr deutlich eine Utopie, einen Gegenentwurf zu dieser nationalistisch geprägten politischen Wirklichkeit, mit der wir heute konfrontiert sind."

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