Carreras: "Gesellschaft geht durch eine Krise"

José Carreras
José Carreras ist in Wien noch einmal auf der Opernbühne zu erleben. Wie sieht er die Zukunft des Genres? Und wie die Stars von heute?

Es ist möglicherweise die letzte Opernrolle für Josep Maria Carreras, den Katalanen, der ab den 1970er-Jahren offiziell den spanischen Namen José tragen musste. Im Theater an der Wien singt der Startenor und Publikumsliebling derzeit (noch am 5. Juli) den Richter in "El Juez". In dieser Oper geht es um ein dunkles Kapitel der spanischen Geschichte: die Verschleppung und Umerziehung von Kindern regimekritischer Eltern zur Zeit der Franco-Diktatur.

Im Herbst (am 10. 9. in Graz, am 17. 9. in Innsbruck) und im Frühjahr (am 22. 3. 2017 im Wiener Konzerthaus) wird der 1946 in Barcelona geborene Sänger, zweifellos einer der wichtigsten der vergangenen Jahrzehnte, wieder in Österreich gastieren – im Rahmen seiner "Final World Tour".

KURIER: Herr Carreras, als Sie zuletzt in Erl "El Juez" sangen, deuteten Sie an, dass es vielleicht doch nicht Ihre letzte Rolle sei. Sind noch weitere Opernauftritte geplant?

Carreras: Das war vor zwei Jahren, da kann sich viel ändern (lacht). Bei "El Juez" hatten wir das Glück, dass Christian Kolonovits eine wunderbare Partitur und Angelika Messner ein tolles Libretto geschrieben haben. Also wer weiß? Wenn es ein neues Projekt von solcher Qualität gibt …

In der gleichen Konstellation?

Warum nicht? Es war nicht nur künstlerisch, sondern auch menschlich sehr schön, mit den beiden zusammenzuarbeiten. Aber es gibt nichts Konkretes.

Ist das Thema von "El Juez" – verschleppte Kinder zur Zeit der Franco-Diktatur – in Spanien überhaupt sehr bekannt?

All das ist passiert, als ich selbst ein Kind war. Die Regierung hat versucht, das zu unterdrücken. Dann kam es doch an die Öffentlichkeit, und die Geschichte wurde größer und größer. Er gibt mittlerweile Bücher, Filme, und nun gibt es die Oper. Mich beschäftigt der Fall natürlich sehr, weil ich aus einer Familie von Republikanern komme. Allein dadurch waren wir daheim immer kritisch.

Sie sind glühender Anhänger des Fußballklubs Barcelona. Auch aus politischen Gründen?

Früher war diese Motivation für die Fans sehr wichtig. Während der Franco-Zeit konnten die katalanischen Anhänger ihre katalanischen Wurzeln, ihre Sprache nur durch einen Besuch eines Barcelona-Spieles ausdrücken. Anders war das wegen der Diktatur nicht möglich. Das hat sich natürlich geändert. Heutzutage sind im katalanischen Parlament 49 Prozent für die Unabhängigkeit von Katalonien.

Wie sehen Sie die diesbezügliche Zukunft?

Ich finde, wir Katalanen haben das Recht, unsere Zukunft selbst zu entscheiden. Wir sind ja keine Minderheit von ein paar Prozent. Spanien beziehungsweise die Regierung in Madrid sollte uns ein Referendum erlauben, das diese Frage endlich klären könnte. Referenden sind ja im Moment sehr in Mode.

Ihr Kommentar zum Ausgang des Brexit-Referendums?

Natürlich hat jeder hat das Recht, seine Meinung auszudrücken. Aber wenn England die EU verlässt, ist das ein Schaden für die junge Generation.

Es heißt allerorts, Oper sei in einer Krise, vor allem ökonomisch. An vielen Musiktheatern wird über mangelnde Subventionen geklagt, an der New Yorker MET waren die Karteneinnahmen zuletzt sehr schlecht. Wie empfinden Sie die Situation?

Was in der Oper passiert, reflektiert, was auch in der Gesellschaft passiert. Wir gehen durch eine Krise, kein Wunder, dass da auch die Oper Probleme hat. Man muss nicht betonen, wie teuer Opernproduktionen sind. Manche Länder wie etwa Österreich können sich glücklich schätzen, weil die Regierung an die Kunst glaubt und versteht, wie wichtig Oper für die Identität des Landes ist. In anderen Ländern gibt es große Probleme, etwa in Italien. Es hängt immer auch von den Machthabern ab. Bei allem Respekt: Während der Jahre von Berlusconi war es besonders schwierig.

Ein Riesenproblem ist es, jüngeres Publikum zu erreichen. Wie könnte man da wieder Begeisterung schüren?Ich glaube, das hängt von den Interpreten ab. Als ich in den 1970er-Jahren zum ersten Mal nach Österreich kam, war es eine wunderbare Überraschung, dass Menschen zwei Nächte vor der Oper verbracht haben, um an Karten für manche Aufführungen zu kommen. War das wegen der Opern oder wegen der Stars?

Wohl wegen der Stars.

Glaube ich auch. Vielleicht haben wir diese Art von Stars heute nicht mehr.

Haben wir wirklich nicht?

Wir haben wunderbare Sänger, absolut. Aber was das Publikum in die Oper bringt, sind nicht nur Sänger, sondern vor allem große Persönlichkeiten. Ich glaube, die gibt es nicht mehr in der großen Anzahl wie etwa in den 70er-Jahren.

Wen schätzen Sie besonders? Wer sind die Stars von heute?

Meine Meinung unterscheidet sich da wohl nicht von der anderer Opernliebhaber: Jonas Kaufmann; in einem gewissen Repertoire Juan-Diego Florez. Wenn die singen, passiert etwas Besonderes. Sie haben den richtigen Instinkt, die richtige Intuition. Unter den Sängerinnen ist das natürlich Anna Netrebko. Sie ist wundervoll. Zuletzt hatte ich in Salzburg ein Konzert mit Angela Gheorghiu. Sie ist auch eine Diva. Ihre Persönlichkeit, ihr Charisma sind ganz stark.

Sie haben also bestimmt mitbekommen, was in Wien passiert ist, als Gheorghiu zu spät auf die Bühne kam, weil Kaufmann die große Cavaradossi-Arie wiederholte. Sie haben doch selbst "E lucevan le stelle" auch wiederholt?

Ja, Angela hat mir das erzählt. Ich selbst habe die Arie an der Staatsoper am 1. September 1982 wiederholt, am ersten Abend der Ära Maazel. Ich glaube jedoch, dass ein Encore ein Fehler ist. Wissen Sie warum? Es ist nie der gleiche Erfolg.

Sind Internet und soziale Medien eine Hilfe für die Branche oder ein Schaden? Wenn Sie etwa auf der Bühne patzen, kann man das sofort danach auf YouTube sehen.

Das ist schrecklich. Ein Extra-Druck. Aber denken Sie auch an diese Fernsehshows wie "Britain’s got Talent" – glauben Sie, dass das der Oper hilft? Das allgemeine Publikum glaubt, dass es richtige Oper ist, was man dort hört. Ich sage mit allem Respekt vor den Teilnehmern: Das ist nicht Oper.

In vielen Städten werden gerade Intendanten gesucht, in London, bald in Wien, Paris, etc. Wir erwarten große Veränderung für das ganze Business. Was wären Ihre Wünsche an die Zukunft?

Jeder sucht einen Messias. Aber wenn man nicht ausreichend Budget hat, ist es enorm schwierig. So viele gute Ideen kann man gar nicht haben. Intendant zu sein ist ein komplizierter Job. Es gibt nicht viele, die ebenso viel von Kunst wie von Geld verstehen. Deshalb glaube ich an ein Team. Aber die künstlerische Seite muss genauso stark sein wie die ökonomische. Alles in einer Person zu finden, ist kaum möglich.

Glauben Sie, dass in 50 Jahren noch ein wichtiger Opernsänger hier im Hotel Imperial sitzt und ein Interview gibt? Wird das Genre überleben?

Oper hat eine große Kraft. Wir reden von Meisterwerken. Vielleicht sind es nur 200, aber sie existieren. Wie Leute in die Secession gehen, um Klimt zu sehen, oder in Amsterdam zu Van Gogh, so wird auch Oper weiter existieren. Natürlich kann man eine CD hören oder eine DVD anschauen. Aber wirklich zum Leben kommt Oper nur live. Weil sie jeden Abend anders ist. Es ist die Aufgabe der Kulturpolitik, alles dafür zu tun, um Oper zu unterstützen.

Wie stehen Sie zu modernen Inszenierungen?

Was auch immer ein Regisseur anbietet, das die Musik mit Respekt behandelt, ist gültig. Natürlich kann man die Zeit verändern, eine Geschichte in die Gegenwart holen, aber nicht den Kontext. Man fährt ja auch nicht nach Paris und bastelt an einem Rodin herum mit dem Argument: Mir gefällt die Form nicht. Aber ich habe nichts gegen moderne Zugänge, wenn sie zu den Wünschen von Komponist und Librettist passen.

Welcher war der beste Regisseur, mit dem Sie je gearbeitet haben?

Schwierige Frage. Derjenige, der Sänger am meisten in das Stück involviert hat, war Giorgio Strehler.

Der größte Dirigent? Karajan?

Natürlich. Dieses Charisma, diese Persönlichkeit waren einzigartig.

Kurz zurück zu „El Juez“: Das ist eine Oper, die speziell für Ihre Stimme komponiert wurde. Viele neue Werke haben es schwieriger: Sie sind kompliziert zu realisieren, werden als recht intellektuell empfunden und verschwinden rasch wieder. Wie wichtig sind generell neue Opern?

Sehr wichtig. Es gibt gute zeitgenössische Opernkomponisten. Intendanten müssen aber den Mut haben, neue Werke zu präsentieren. Sie gehen zu selten das Risiko ein und haben Angst, dass die Häuser halb leer sind.

Was wird jemand wie Carreras machen, wenn er je aufhört zu singen? Daheim Tee trinken?

Ich werde mich immer für meine Leukämie-Stiftung einsetzen, völlig unabhängig von meiner Karriere. Und sonst tun, was ein Großvater tut: Mich um meine Enkel kümmern.

Ausnahmezustand im Theater an der Wien. Noch ein Mal (Reprise am Dienstag!) stand José Carreras am Wochenende in einer szenischen, eigens für den legendären Jahrhundert-Tenor kreierten Produktion auf einer Opernbühne.

Zum letzten Mal, wie auch Intendant Roland Geyer in einer Ansprache betonte.

Denn mit der Oper "El Juez" ("Der Richter") von Christian Kolonovits (Musik) und Angelika Messner (Libretto) nahm Carreras seinen Abschied von den Brettern, die sprichwörtlich die Welt bedeuten. Mit einem Werk, mit einem Thema, das dem Katalanen sehr am Herzen liegt. Denn in "El Juez" geht es um die von Francos Schergen "gestohlenen Kinder" – so auch der Untertitel. Ein Teil Geschichte, der bis heute nicht ganz aufgearbeitet ist.

Nach Bilbao, Erl und St. Petersburg durfte Carreras auch an der Wien noch einmal das "verfluchte System" (eine sehr schöne Nummer!) besingen und seine Wandlung vom angepassten Richter hin zum aufgeklärten und sich letztlich auch seiner Vergangenheit stellenden Menschen nachvollziehen.

Kolonovits hat dafür eine eingängige, überaus gekonnt zwischen Musical und Oper changierende Musik (mit einigen Highlights) geschrieben. Die Inszenierung von Emilio Sagi im grauen Wände-Bühnenbild (Daniel Bianco) ist den Anforderungen einer klassischen Tournee-Produktion geschuldet.

Doch Carreras kann auch in diesem Ambiente mit darstellerischer Intensität punkten, hat nur in Carlos Colombara (als Bösewicht Morales) und der Kinder verkaufenden Äbtissin (Ana Ibarra) Gegner auf Augenhöhe. Tenor José Luis Sola als stimmlich gefährlich limitierter Liedermacher sowie die etwas sehr schrille Sabina Puértolas als Journalistin fügen sich ein.

Der gewohnt exzellente Arnold Schoenberg Chor und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung von David Giménez sorgten für einen würdigen Carreras-Abschied.

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