John Irving: "Schreibblockade? Nie gehört!"

John Irving: „Ich mache Witze über Schreibblockaden, denn ich habe selbst keine Ahnung, was das ist“
Der Literatur-Weltstar über Pubertät, Günter Grass und Türen, die das Schicksal bestimmen.

Man merkt es ihm an, er möchte wieder in seine Wunderkammer. Zu den hellseherischen Kindern, den Bären, den grotesk-tragischen Schicksalsschlägen, die dem Leser am Ende immer das Herz herausreißen. Zurück an seinen Schreibtisch will er, er hat so viel zu erzählen und so gar keine Zeit für Publicity. Die Verlags-Pressefrau, sagt er selbstironisch, weiß davon ein Lied zu singen.

Immer wieder blickt Literatur-Weltstar John Irving beim Interview-Termin in einem Münchner Hotel scheinbar Hilfe suchend zu ihr. Nicht sehr groß ist er und weniger kompakt, als man ihn sich als ehemaligen Ringer vorgestellt hat, doch die silbergraue Mähne ist auch mit 74 voll. Irgendwann taut John Irving auf, macht am Ende sogar Scherze (er demonstriert, wie ein Magnet an seiner mehrfach operierten, metall-enthaltenden Schulter haftet) und lässt ein paar Brocken Deutsch einfließen.

Deutsch hat er 1963 in Wien gelernt, wo er ein Jahr gelebt und den Weg in sein kurioses Schriftsteller-Universum gefunden hat. Die "Pension Grillparzer" und die Krugerstraße sind in Bestsellern wie "Hotel New Hampshire" zu Ruhm gekommen. In jüngeren Werken sind Wien, Maine und Irvings Heimat New Hampshire Schauplätzen wie Indien und Mexiko gewichen. Und doch ist auch sein neuer Roman "Straße der Wunder" typisch Irving. Ein hellseherisches Mädchen und ihr hinkender Bruder, späterer Bestsellerautor. Aufgewachsen auf einer mexikanischen Müllhalde, adoptiert von einem schwulen Ex-Priester und einem Transsexuellen. Das kann nur John Irving einfallen.

KURIER: Mr. Irving, sprechen Sie noch Deutsch?

John Irving: Ich verstehe es nicht mehr, weil ich es nie höre, aber ich spreche es. Ich bin schließlich Schriftsteller.

Sie haben in Wien zu schreiben begonnen?

Ich war im richtigen Alter (22, Anm.), in einem fremden Land, viel allein. Davor hatte ich immer meine Wrestling-Kameraden um mich.

Man darf nicht den Autor mit dem Protagonisten verwechseln, aber Sie spielen doch gerne mit der Idee von Alter-Egos in Ihren Romanen.

Vier meiner Romane haben einen Autor als Protagonisten. Zwei Mal ist er nach meinem Vorbild modelliert. Dany in "Twisted River" und Juan Diego in "Straße der Wunder" haben Echos in meiner Arbeit. Bei Garp ist es anders. Ich mache mich lustig über die Art von Autor, die er ist. Er kann nur über Dinge schreiben, die er erlebt hat. Man hat mir deshalb vorgeworfen, dass ich Gefühle anderer Autoren verletze. Ich mache Witze über Garps Schreibblockaden, denn ich habe selbst wirklich keine Ahnung, was das ist. Mein Problem ist, dass ich nie Zeit finde, all das aufzuschreiben, was ich in mir herumtrage.

Kritiker orten in Ihrem neuen Buch "Magischen Realismus".

Ein typisches Kritiker-Label. Bloß weil die Magie in Südamerika passiert? García Márquez oder Carlos Fuentes gab es lange, bevor man ihnen diesen Stempel aufdrückte, und ich schreibe seit Ewigkeiten über Geister. Günter Grass hat die Idee zur "Blechtrommel" ja auch nicht aus dem "Magischen Realismus" bezogen, sie ist Jahre vor Márquez’ "Hundert Jahre Einsamkeit erschienen. Dass Márquez den Literatur-Nobelpreis vor Grass bekommen hat, ist ein Fehler des Nobelpreis-Komitees. Die haben da was verwechselt.

Ihr "Owen Meany" ist eine Hommage an Grass.

Ja, und an Robertson Davis. Ich wurde der Schriftsteller, der ich bin, wegen der Bücher, die ich gelesen habe. Charles Dickens, Nathaniel Hawthorne, Herman Melville, Thomas Hardy. Ich habe ihre Romane mit 15, 16 gelesen. Grass habe ich erst später entdeckt. Ich finde, er war einer der wenigen Schriftsteller, die noch so schrieben, wie man das im 19. Jahrhundert gemacht hat. Was übrigens auch bei Márquez der Fall war. Aber Grass habe ich zu spät entdeckt, als dass er mich beeinflusst hätte, denn wenn du einmal in den Zwanzigern bist, kann dich niemand mehr beeinflussen.

Als Kind wollten Sie Schauspieler werden?

Ja, aber als ich Dickens gelesen habe, habe ich meine Meinung geändert, denn als Schauspieler kannst du eine Figur spielen, als Autor alle.

Sie hatten Gastauftritte in Verfilmungen Ihrer Romane, nun soll "Garp" als HBO-Serie neu verfilmt werden. Werden Sie mitwirken?

Vielleicht, aber das ist nicht wichtig. Schauen wir einmal, wie sich das entwickelt. Die müssen ja auch erst einen Regisseur finden, der ihnen und auch mir gefällt. (Später wird Irving von der Oscar-gekrönten Verfilmung seines Romans "Gottes Werk und Teufels Beitrag" erzählen, an der vier Regisseure mitwirkten. Der erste starb, den zweiten und dritten feuerte Irving, erst dem vierten, Lasse Halström gelang der Film, Anm.)

In "Straße der Wunder" wird über den Satz von Graham Greene debattiert, laut dem es einen einzigen Moment, eine Türe gebe, die das ganze weitere Leben entscheide. Glauben Sie das?

Nein. In meinem Leben gab es keine solche Türe. Aber ich mag die Idee. In 13 meiner 14 Bücher gibt es einen solchen lebensentscheidenden Moment im Leben eines jungen Menschen. Über Graham Greenes Idee mit der Türe lässt sich nicht streiten. Bei manchen Menschen gibt es eine, bei anderen mehrere Türen. Greene hätte wohl schreiben sollen: "In jedem Leben gibt es eine oder zwei oder drei Türen, die alles entscheiden", aber das ist eben kein schöner Satz. In "Last Night in Twisted River" gibt es eine solche Tür, nämlich den Moment, als Dany entdeckt, dass die Freundin seines Vaters ein Bär ist. Für Juan Diego in "Straße der Wunder" gibt es mehrere Türen. Es kommt auf die Story an, aber in all meinen Romanen passiert das in der Jugend.

Ist die Pubertät die wichtigste Zeit im Leben eines Menschen?

Nein, sicher nicht in meinem Leben, ich kann mich gar nicht dran erinnern. Aber im Storytelling mag ich diese Zeit, denn sie ist sehr verletzlich. Was dir da zustößt, wird dich prägen. Nehmen wir im neuen Roman Lupe, sie ist 13, hat ihre Periode noch nicht, ist sehr beunruhigt darüber. Das reicht, um sie aus der Fassung zu bringen, denn in diesem Alter sind viele Mädchen ohnehin sehr fragil. Lupe ist überzeugt, dass ihre körperlichen Veränderungen damit zu tun haben, dass ihr Bruder sterben wird. Und sie fühlt sich komplett allein, niemand hilft ihr.

Woher kennen Sie junge Mädchen so gut? Sie haben drei Söhne.

Ja, aber durch sie habe ich viele junge Mädchen kennengelernt (lacht). Außerdem habe ich drei Schwestern, allesamt jünger. Und vier Brüder. Mit verschiedenen Vätern und Müttern. Sehr kompliziert.

Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Ihren Roman-Figuren beschreiben? Sind sie Familie?

Ich kenne sie wahrscheinlich besser als meine Familie, besser als irgendjemanden. Bevor ich einen Roman zu schreiben beginne, lebt er lange Zeit in mir. Bevor ich "Last Night in Twisted River" begann, lebte der Roman zwanzig Jahre in mir. "Straße der Wunder" existierte zwanzig Jahre als Drehbuch. Meine Bücher sind doppelt so lange in meinem Kopf, wie ich dazu brauche, sie zu schreiben. Deshalb sind mir die Charaktere sehr nahe. Ich tue alles, um meine Bücher präzise vorzubereiten. Wenn ich sie schreibe, muss ich nie darüber nachdenken, was als nächstes passiert. Beim Schreiben bin ich ein Pferd mit Scheuklappen. Ich denke nur an die Sprache. Die Architektur muss vorher stehen. Ich habe immer einen Plan.

Lesen Sie manchmal Ihre früheren Romane wieder?

Manchmal blättere ich nach, wie ich gewisse Dinge früher angegangen bin. Speziell, wenn ich ein Drehbuch vorbereite. Bei "Gottes Werk und Teufels Beitrag" hat dieser Prozess 14 Jahre gedauert. Das TV-Drehbuch für "Garp" fällt mir jetzt sehr leicht,die Struktur, die dir eine Serie ermöglicht, mit den Zeitsprüngen in die Zukunft und die Vergangenheit, bietet viele Möglichkeiten. Was mir nicht gefällt, ist, mich mit einem Roman zu beschäftigen, den ich vor fast vierzig Jahren geschrieben habe. Er ist einfach nicht sehr gut konstruiert, die Architektur ist nicht so gut wie in späteren Büchern nach "Gottes Werk und Teufels Beitrag", meinem sechsten Buch. Alles, was ich davor geschrieben habe, hinkt in der Struktur. Ein bisschen wie ein Haus mit drei Schlafzimmern, aber nur einem Stiegenaufgang. Oder, ganz ehrlich, wie in diesem Hotel: Die haben hier wunderbare Badezimmer, sie geben dir drei Badetücher aber es gibt keinen Haken dafür! So geht’s mir mit Garp: Wo sind hier die Haken für die Tücher?

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