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Die Ballerina hatte keine Wahl
Ein Tanz-Schlüsselwerk: "Giselle Rouge" in der Volksoper.
Ein ausgezeichnet choreografiertes Ballett, das die Bedrohung der Kunst in totalitären Regimen thematisiert, und der Triumph einer Ballerina an der Spitze des Wiener Staatsballetts in der Volksoper: Boris Eifmans abendfüllendes Handlungsballett " Giselle Rouge" mit Olga Esina in der Titelrolle ist ein Schlüsselwerk des zeitgenössischen Tanzes.
Eifman hat seine 1997 in St. Petersburg entstandene Choreografie für Wien überarbeitet. Sie ist eine technische Herausforderung für die Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts, die die Solisten und das Ensemble mit Bravour meistern.
"Giselle Rouge" ist der legendären Primaballerina Olga Spessiwzewa (1895– 1991) gewidmet, die vor dem Aufkeimen des Stalinismus in den Westen floh. Tragische Berühmtheit erlangte sie mit ihrer Darstellung der Wahnsinnsszene im romantischen Ballett "Giselle", mit der sie ihrem eigenen Schicksal und dem jahrzehntelangen Aufenthalt in einer Nervenklinik vorausgriff.
Doch Eifmans Ballett geht über die Nacherzählung ihrer Biografie weit hinaus.
Der erste Akt führt die Eingriffe der neuen Machthaber in die Ästhetik der Ballettkunst vor Augen. In die Welt der Revolution passen die Klassiker von einem Tag zum anderen nicht mehr.
Repräsentativ bleibt der Tanz nun mit anderen Mitteln. Anstelle der fragilen Tänzerinnen à la Degas (Ausstattung: Wiacheslav Okunev) treten stilisierte Bauern und Arbeiter: Das Agitprop-Ballett ist geboren. Die Ballerina muss sich für die neuen Auftraggeber "verbiegen".
Opferrolle
Großartig, wie sich Olga Esina verwandelt und nach Halt sucht. Kirill Kourlaev führt als Kommissar bestechend vor Augen, wie sehr die Politik die Kunst zu vereinnahmen vermag und die Ballerina auch in eine sexuelle Opferrolle drängt. Ähnlich wie die Zarenfamilie vor der Revolution hatte auch Stalin Affären mit Tänzerinnen, die zu bis heute ungeklärten Todesfällen führten. Die Ballerina hat also keine Wahl. Die Flucht in den Westen verlängert zwar ihr Leben, vermag das Leiden jedoch kaum zu verringern. Die Zuneigung zu einem Tanzpartner (Roman Lazik) zerbricht an dessen Homosexualität. Am Ende stehen Ausschnitte aus dem Ballett "Giselle". Eifman verlegt auch diese Szenen in ein ungewöhnliches Ambiente. Anstelle der Ballettmusik von Adolphe Adam erklingen Werke von Alfred Schnittke. Diese Durchdringung zeitgenössischer Musik mit der Tanzsprache des 19. Jahrhunderts gelingt. Auch Schnittke hatte unter den Eingriffen der Politik zu leiden.
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