Abschied aus Kiew - Stadt unter dem grauen Regenbogen

Kinder erklettern Geschichte: Zwei Bewohnerinnen Kiews auf einem Denkmal zum Zweiten Weltkrieg
Ein persönlicher Rundgang durch eine vielschichtige Stadt, die geprägt ist vom Unwillen, sich irgendwelchen Autoritäten zu beugen.

Ein kleiner Spaziergang: Podil, der Bezirk am Ufer des Dnipro am Fuße jener Hügel, auf denen das Zentrum Kiews liegt. Clubs, Bars, Schaschlikbuden, Restaurants, Straßenmusiker. Es ist der Ort, an dem in Kiew Tag für Tag Diversity – Vielfalt – zelebriert wird. Podil ist keinesfalls nobel. Es ist ein Ort, der sich in Details von einer Nicht-Region mit verfallenden Häusern zu einem Viertel wandelt, das zum eigentlichen Herzen der Stadt wird.

Unscheinbar, unaufdringlich, real – ungeachtet der Umstände.

Und es ist der Ort, an dem sich in den vergangenen Jahren ganz besonders das entfaltet hat, was die Ukraine immer ausgemacht hat: diese gewaltige Gabe zur Improvisation und dazu, aus dem Gegebenen bei allen Um- und Widerständen das Maximum herauszuholen; dieser beinharte Unwille, sich Autoritäten zu beugen; dieser geradlinige Drang, real zu sein.

Plattenkunst

Ein Konzert vor einer Bar, eine Band spielt auf dem Gehsteig – eine Gitarre, ein Piano, Elektronik. Ein junger Typ mit Rastalocken platziert ein Kunstwerk vor dem Eingang. Verbeulte Vinyl-Platten auf einen Besenstiel genagelt und diverses Zeug mit Tixoband dazugeklebt. Er hat keinen weiteren Plan damit. Das war der Plan. Er hat es gezeigt. Es wird betrachtet. Er ist zufrieden. Er nimmt es auch nicht mit wie ein Heiligtum. Es bleibt stehen und wird der Allgemeinheit überlassen.

Zwei Straßen weiter ein anderes Konzert: Ein Mann versucht sich als Tenor, dazu tiefe, dumpfe Bässe. Zur Verdeutlichung des Liebesdramas und seiner Sehnsucht steigt das Lied einfach nur eine Oktave höher.

Ende. Ein Überbleibsel. Aber auch hier einige Dutzend Menschen.

Vorbei an flanierenden Hipstern, breitschultrigen Typen mit kahlrasierten Schädeln in Lederjacken und polierten Schuhen, quer über die Straße johlende georgische Köche, in ihren Autos schlafende Taxifahrer, die niemand zu wecken vermag,

Herren mit Aktentaschen in schlecht sitzenden Jacken und Lederkäppis eilen hinauf in die Stadt. Links der Park mit dem sowjetischen Denkmal zur Freundschaft der Völker. Vor allem der Ukrainer und der Russen.

Lachen gegen Rechts

Zwei Soldaten, darüber ein riesiger Stahlbogen. In den Farben des Regenbogens hätte er bemalt werden sollen. Wurde er aber nicht ganz, weil rechte Gruppen dagegen mobil gemacht hatten. Auch das ist Kiew.

Auch wenn das Kiew Podils in Mehrheit über die Aktion des Rechten Sektor lacht.

Es wäre nicht die Ukraine und vor allem nicht Kiew, wenn die Aktion nicht eine Flut an Reaktionen nach sich gezogen hätte. Offener Hohn war der generelle Tenor. Offener Hohn gegenüber der Stadtverwaltung, die eingeknickt ist. Hohn gegenüber den Rechtsradikalen. Nicht, dass nicht sehr viele Menschen auch gewisse Aktionen rechter Gruppen und Kampfverbände gutheißen würden – vor allem deren Einsatz an der Front, ihre Aktionen gegen Oligarchen und ihnen hörige Regierungsvertreter oder mitunter auch staatsnahe russische Einrichtungen.

Aber mit Regenbogen-Gate hat sich Bürgermeister Klitschko zur Lachnummer seiner Bürger gemacht.

Die weniger amüsante Seite dieser kleinen Affäre: Die enge politische Vernetzung rechtsextremer Gruppen vor allem mit dem Innenministerium, die viele beklagen. Aber auch die Folgenlosigkeit solcher Aktionen, weil Gerichte und Staatsanwaltschaft nach wie vor mehr schlecht als recht arbeiten.

Die Folge ist ein gesetzfreier Raum, den solche Gruppen wie auch Korruptionisten nutzen – der zugleich aber eben auch solchen Leuten Luft verschafft hat, die der Stadt in den vergangenen Jahren einen jungen, vitalen, modernen Anstrich verpasst haben, wie Podil zeigt.

Wenige Meter weiter der Maidan, wo 2014 Menschen erschossen wurden. An der Ecke das während der Revolution 2013/2014 abgebrannte und nur mit Planen verhüllte Gewerkschaftshaus. Auf dem Platz Poster mit Bildern aus dem Zweiten Weltkrieg: Gedenken zum 9. Mai – in für die Ukraine neuem Gewand, per Parlamentsbeschluss entsowjetisiert. Gleich daneben Poster mit Bildern von Veteranen des Krieges im Osten der Ukraine.

Feinmachen für den ESC

Dazwischen flanieren Menschen, die sich fein gemacht haben für die Public-Viewing-Zone des Song Contests wenige Meter weiter: Bässe, Bier und Bratwürste.

"Einen Zirkus" nennt das eine junge Frau in Kleidchen mit sarkastischem Unterton – dennoch ist sie hier.

"Irgendwie interessant, weil eben etwas los ist", sagt ein Herr mit um den Bauch spannendem Polo-Hemd.

Dass in Kiew viele Welten, Ansichten und Lebensrealitäten aufeinander prallen, sehr oft in Harmonie, teils in Konflikten, und immer wieder auch in offenem Streit, das ist an sich nichts Neues.

Ebensowenig, dass der Song Contest bei aller vor sich hergetragenen Politik-Freiheit durchaus mitunter ein politisches Event ist. In diesem Fall jedenfalls war er das.

Russlands Teilnehmerin wurde die Einreise verweigert, weil sie auf der von Russland annektierten Krim aufgetreten war.

Das Siegerlied von 2016 – "1944" – hatte die Deportation der Krimtataren anno 1944 zum Thema.

Ist das Politik? Nicht im engeren Sinne. Aber wenn im Konflikt zweier Staaten die Auslegung der Geschichte zur Bruchlinie wird, dann ist es gewisser Maßen schon Politik. Sollte der Song Contest nicht in Kiew ausgetragen werden? Passen Krieg und ein Spaß-Event wie die Eurovision zusammen?

Tun sie. Weil das Leben in dieser Stadt ohnehin weiterpulsiert. Weil jene, die es nicht wollten, sich ihm sowieso entziehen konnten. Und weil jene, die sich für Stunden der Realität entziehen wollen, ohnehin Nächte durchtanzen in den Clubs der Stadt. Es brauchte dieses Event aber auch nicht, weil sich Kiew ohnehin Schlupflöcher und Fluchtpunkte geschaffen hat – ohne Zahl.

Bass

In einem Bürobau aus Sowjetzeiten in einem Außenbezirk vibriert der Bass. Über eine schmale Treppe in den dritten Stock. Zwei kahle Räume mit Betonwänden, Betonboden, weißen Spots, Dunkelheit. Eine Stahl-Bar, eine Leinwand, über die Formen und Farben zischen. Gesichter verschwinden hier.

Stehend schwankend schlafen – mit tiefem Bass im Bauch.

Auszeit, Schnitt.

Auch das ist eben Kiew.

KURIER: Wie kommt es Ihrer Ansicht nach, dass derzeit international und auch in der Ukraine recht wenig über die Krim gesprochen wird?

Susana A. Dschamaladinowa: Ich denke, derzeit passiert so viel in der Welt. Syrien, der Terror in London und Paris. Da verschwindet so eine kleine Halbinsel wie die Krim aus den Nachrichten. Im internationalen Maßstab passieren da keine lauten Nachrichten. Aber dennoch: Menschen verschwinden, werden für nichts verhaftet, und all das hat keine Konsequenzen für die Täter. All das ohne Prozesse und Verfahren. Menschen verschwinden, weil sie für ihr Recht gekämpft haben, am 18. Mai auf die Straße zu gehen – das ist der Tag der Deportation der Krimtataren. Für ihr Recht, religiöse Feiertage zu zelebrieren. Was wir wollen, ist ein ruhiges Leben in unserer Heimat; gemeinsam unsere Feste feiern. Aber ein Treffen von mehr als fünf Menschen wird bereits als Versammlung angesehen, für die eine Genehmigung benötigt wird. In unseren Moscheen sind immer Beobachter des Staates anwesend. Das Recht auf die freie Ausübung der Religion wird gebrochen.

Tut denn die ukrainische Regierung Ihrer Ansicht nach genug für die Tataren?

Die Ukraine unterstützt die Tataren. Es gibt eine Reihe an Organisationen und NGOs, KrimSOS und dergleichen. Und diese Organisationen sowie die Regierung und die NGOs sind geeint in ihrem Ziel. Die Tataren fühlen sich wie zu Hause. Ich habe mich hier nie als Gast gefühlt. Ich fühle mich als Teil dieses Landes und ich liebe es. Und ich wünsche mir Frieden für dieses Land. Das sind nicht nur Worte. Wir wurden zerteilt. Sie haben Teile des Donbass gestohlen, die Krim. So etwas darf nicht passieren. Es wird vielleicht viel Zeit vergehen, aber die Dinge werden sich wieder fügen.

Diverse Minderheiten haben Befürchtungen, was Rechtspopulismus in der Ukraine angeht.

Ja, es gibt diese weltweite Tendenz. Wir spüren das. Ich bin kein Politiker und ich kann Ihnen dazu keine profunde Antwort geben. Aber auf einer emotionalen Ebene fühle ich, dass das eine Tendenz in eine ferne Vergangenheit ist. Eine ferne Vergangenheit, in die ich mir nicht wünsche, dass die Menschheit geht. Totalitäre Regimes haben der Welt niemals Gutes gebracht.

Ihnen wurde die Position eines UNICEF-Botschafters angeboten. Es gibt auch viele Beispiele in der Ukraine, wo Musiker in die Politik gegangen sind, wie Ruslana. Können Sie sich das für sich vorstellen?Nein, ich bevorzuge es, Sängerin zu sein. Ich möchte bleiben, wo ich bin. Ich liebe es, Musik zu machen, Konzerte zu geben, diverse Projekte zu machen. Das ist alles sehr interessant, und ich kann mir nicht vorstellen, wo da Zeit bleiben soll für andere Aktivitäten außerhalb der Musik.

Ist es möglich, derzeit als Tatar nicht politisch zu sein?

Möglicherweise, wenn man in keiner Weise öffentliche Person ist. Dann geht das vielleicht. Aber all die ukrainischen Tataren, die Journalisten, Musiker, Künstler, Designer, Architekten – wir sind so wenige –, wir kennen einander alle beim Namen. Und alle, die ich kenne, haben eine klare Meinung. Sie sind nicht neutral.

Sind Sie optimistisch, dass Sie bald auf der Krim singen?

Ich wäre sehr, sehr, sehr froh darüber, wenn das in naher Zukunft passieren würde. Meine Ankunft und mein erstes Konzert auf der Krim – ich träume sehr oft davon. Ich schließe meine Augen und sehe es vor mir. Aber bisher ist dort nur Aggression, Gereiztheit und Zorn.

Reportage: Die Krim, die ist ein heikles Thema

Wenn Tamila Tasheva über ihre Heimat, vor allem aber ihr Volk spricht, dann tut sie das in sachlichem, sanftem Ton. Die Frau um die 30 mit modisch kurzem Haarschnitt ist Krimtatarin. Und sie ist eine der Gründerinnen des Organisation KrimSOS. Sie spricht darüber, wie sie Gelder auftreibt für Projekte der Organisation in der Ukraine und der Krim. Und darüber, wo dabei die Schwierigkeiten liegen: Gerade westliche Staaten sind gerne bereit, für Projekte mit Flüchtlingen in der Festland-Ukraine zu zahlen. Wenn es aber um Projekte geht, die KrimSOS auf der Krim selbst verfolgt, gwlten andere Regeln – auch, wenn es nur um so Dinge wie Rechtsbeistand für inhaftierte Tataren oder pro-ukrainische Aktivisten geht. Dennoch: Die Furcht vor diplomatischen Folgen wiegt schwerer.

Es ist ein klein wenig so, als wiederhole sich gerade die Geschichte. Keine 25 Jahre hatte die Heimkehr der Tataren auf die Krim gehalten. Mit der Annexion der Krim durch Russland 2014 hat sich das Blatt wieder gewendet – viele Krimtataren flohen von der Krim in die Festlandukraine – und landeten damit neuerlich in der Diaspora. Viele gingen nach Kiew, viele nach Lviv (Lemberg), viele blieben im Süden der Ukraine nahe der Grenze zur Krim.

Auf der von Russland annektierten Krim selbst ist mittlerweile fast alles verboten, was Selbstorganisation angeht. Und vor allem im Visier der Behörden stehen die Tataren – allen Versprechen des Kreml zum Trotz. Die krimtatarischen Mejlis, eine institutionalisierte Selbstverwaltungs-Körperschaft der Tataren, ist verboten. Tatarische Schulen wurden geschlossen. Tatarische Vereine können ebenso nicht offen arbeiten. So auch KrimSOS. Die allermeisten dieser Strukturen existieren heute auf Gebiet, dass von den ukrainischen Behörden kontrolliert wird. Und die allermeisten davon haben ihren Hauptsitz in Kiew.

Wie viele Tataren von der Krim nach Kiew geflohen sind, lässt sich kaum sagen. Tamila Tashewa spricht von um die 10.000. In der ganzen Ukraine wurden 27.000 Menschen von der Krim – allerdings nicht nur Tataren – als IDPs registriert. Andere Zahlen gehen aber alleine von 30.000 geflohenen Tataren aus. Nicht alle IDPs ließen sich auch als solche registrieren.

Aufgenommen worden seien die Ankömmlinge dabei, so sagt Tamila Tashewa, durchaus positiv. Sie geht sogar soweit zu sagen, dass die Vorkommnisse um die Krim infolge der Maidan-Revolution an der Tatarische Gruppen auch maßgeblich beteiligt waren, die allgemeine Meinung über die Tataren weitaus verbessert hätten. Und dann auch der Sieg der Sängerin Susana Alimiwna Dschamaladinowa (Jamala) beim Songcontest 2016 mit einem Lied, das die tatarische Deportation durch Stalin 1944 zum Thema hatte. Den Songcontest ausrichten zu müssen freute zwar nicht alle, das Lied selbst aber fand breite Zustimmung.

Tatsächlich erfreuen sich die zahlreichen neuen tatarischen Restaurants in der Stadt großem Andrang. Eine Frau sagt dazu: „Es ist schön zu sehen, dass Kiew zu einer multikulturellen Großstadt wird – und das liegt vor allem an den Tataren.“ Probleme, so sagt, Tamila Tashewa, habe es nur vereinzelt gegeben – und da vor allem in der Provinz. Eine Tendenz sei aber nicht auszumachen.

Probleme macht sie eher auf der Krim selbst aus. Dass die Mejlis – eine „national ausgerichtete Organisation“, wie sie sagt – verboten wurden, dass der Druck auf die Tataren massiv zugenommen habe, habe auch dazu geführt, dass konservativere Gruppen mehr Einfluss erhalten hätten. Eine Radikalisierung gebe es aber nicht. Viel eher macht sie den Umstand aus, dass die Tataren auf der Krim selbst gelernt hätten, unter den neuen Umständen effizienten Protest zu kultivieren. „Wir müssen über die Annektion reden, über die Menschenrechtsverletzungen“, sagt die Aktivistin. Gerade auch angesichts des Umstandes, dass die Politik der ukrainischen Regierung in der Frage alles andere als effizient sei. „Es fehlt an einer Strategie zur friedlichen Deokkupation der Krim. Es fehlt an politischer Einigkeit und Verständnis.“

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