"Rund um die Burg" mit Michael Köhlmeier

"Rund um die Burg" mit Michael Köhlmeier
Das Literatur-Fest wird mit dem neuen Buch des Vorarlbergers eröffnet. Eine Leseprobe finden sie hier.

Hügel an Hügel, auf manchem ein Wäldchen, auf manchem ein Haus, dort lebte vor Jahren, eure Finger mal siebzehn, ein Bub, der hieß Valentin. Er war gerade zehn Jahre alt, als er eines Morgens erwachte, und niemand war da. Seine Eltern hatten ihn verlassen oder sie waren in den Wald gegangen und darin umgekommen, niemand wusste es, niemand hat sie gefunden. Hinterlassen haben sie dem Valentin ein kleines Haus mit einem kaputten Dach und sonst nichts. Nicht einmal etwas zu essen war da.

Die Lumpen

Aber der Valentin, der hatte ein sehr fröhliches Gemüt, und er lief zu den Nachbarn hinüber auf den anderen Hügel, einmal auf diesen Hügel, einmal auf den nächsten. Nicht, dass er bettelte, nein, er war halt zur rechten Zeit da, wenn es Frühstück gab oder Mittagessen oder Abendbrot, und die Bauern, die gaben ihm, was übrig blieb. Und er bedankte sich und schnalzte mit der Zunge. Und war immer fröhlich und immer gut gelaunt. Eines Tages sagte jemand zu ihm: "Valentin, schau dich um, du siehst doch die anderen Kinder. Denen geht es so gut. Die haben schöne neue Kleider an, du trägst immer deine alten Lumpen. Und zu Weihnachten bekommen die Kinder schöne Dinge geschenkt, und dir schenkt niemand etwas. Erzähl mir nicht, dass du nicht neidisch bist!" Und der Valentin sagte: "Nein, das bin ich nicht." "Aber warum denn nicht?", wurde dagegen gefragt. "Weil ich weiß, dass ich eines Tages nicht mehr arm sein werde. Ich weiß, ich werde eines Tages sehr reich sein, reicher als der Graf." Da lachten die Leute: "Du! Reich! Woher willst du das wissen?" Und der Valentin schnalzte und sagte: "Ich schmecke es." Wie, du schmeckst es?" "Ja, ich schmecke es", sagte er. "Wenn ihr mir ein trockenes Stück Brot gebt und ich kaue dieses Brot und schließe dabei die Augen, dann schmeckt es wie ein Gänsebraten. Und Wasser schmeckt mir wie Wein. Aber ich weiß nicht, wie ein Gänsebraten schmeckt, weil ich noch nie einen Gänsebraten gegessen habe, und wie Wein schmeckt weiß ich auch nicht. Und warum weiß ich es trotzdem? Weil ich eines Tages Gänsebraten essen und Wein trinken werde. Also werde ich reich sein, denn Gänsebraten essen und Wein trinken tun nur reiche Leute." So argumentierte Valentin.

Die Reste

Die Leute haben gelacht, Zukunft und Gegenwart purzelten in ihrem Kopf durcheinander, aber sie haben gelacht, und den Valentin habe sie gemocht. Und sie haben ihm gerne die Reste von ihrem Tisch gegeben - Kartoffeln, die schon lila waren, oder ein Stück Wurst, das sich wölbte und schwitzte, oder eben ein Stück trockenes Brot. Dann hörten sie zu, wie Valentin schnalzte, und sahen sie zu, wie er die Augen schloss, und sie sahen an seinem Gesicht, dass er sich in den Reichtum hineinträumte.

Der Befehl

Der Valentin ging durch den Tag wie ein Tier, immer auf Nahrungssuche. Er durchstreifte den Wald, der Wald gehörte Grafen, und der Graf sah das nicht gern. Er war ein geiziger Mann. Nicht einmal die Tannennadeln, die am Fuß hängen blieben, gönnte er dem Valentin, ganz zu schweigen von den Himbeeren, die der Valentin verspeiste. Er gab Befehl: "Wenn ihr den Valentin im Wald antrefft, zieht eure Peitschen!" Ja, ganz besonders gern mochte der Valentin die Himbeeren, und weil der Mensch irgendetwas als sein Eigentum braucht, sonst wär sein Leben das eines Tieres, und der Valentin vielleicht wie ein Tier lebte, aber doch keines sein wollte, stellte er sich vor die Himbeersträucher und rief in den Wald hinein:
"Das sind meine Himbeeren! Nichts auf der Welt gehört mir außer diesen Himbeeren!"
Er schnalzte und horchte, und als er keinen Widerspruch hörte, galt ihm sein eigenes Wort als Gesetz. Und eines Abends sah er eine Natter, die fraß an seinen Beeren. Da stellte er seinen Fuß auf sie und sagte: "Das sind meine Himbeeren. Hast du denn nicht zugehört?"
Die Natter sagte: "Ich weiß. Kannst du mir noch einmal verzeihen? Töte mich nicht, nimm deinen Fuß von meinem Leib." Und Valentin sagte: "Was bekomme ich dafür?" Und sie sagte: "Ich geb" dir die Krone der Natternkönigin." Sie kroch in ihr Nest und holte die Natternkrone - ein kleiner goldener Ring. Valentin zog ihn auf die Hutschnur und bedankte sich.

Der Braten

Unterwegs dachte er: Hoffentlich habe ich das Ding nicht verloren. Er griff nach seinem Hut und berührte das Krönlein, und als er es losließ, hatte er einen Gulden in der Hand. Schnell griff noch einmal hinauf, und da lag ein weiterer Gulden in seiner Hand. Das machte er so lange, bis er es kapierte und glaubte. Er setzte sich auf eine Lichtung, breitete das Taschentuch aus und pflückte einen Gulden nach dem anderen von seinem Hut, bis das Taschentuch voll war und grad noch zusammengebunden werden konnte. Dann machte er sich auf den Weg ins Dorf. Er ging ins Gasthaus. Tat, was er noch nie getan hatte: Er bestellte Schweinsbraten. Die Gäste lachten: "Valentin! Kein trockenes Brot?" "Nein, heute Schweinsbraten", sagte er. Er knüpfte sein Taschentuch auf und zeigte die goldenen Taler.

Der Graf

Da wussten es alle: Der Valentin war geworden, was er immer angekündigt hatte: reich. Und der Valentin zeigte ihnen auch, wie das geht, und erzählte ihnen die Geschichte von der Natternkönigin. Er wurde reich und reich und reich und war bald reicher als der Graf.
Dieser, geizig und listig, lud den Valentin zu sich ein und umarmte ihn und sagte: "Valentin, mein lieber Freund, wir beide sind ja gleich reich, ist das nicht schön!" Der Valentin schnalzte mit der Zunge: "Nein, Graf, nicht gleich reich sind wir, ich bin reicher als du." Der Graf schluckte das hinunter, und es schmeckte ihm wie Galle. Aber er bewirtete Valentin mit dem Besten, mit Gänsebraten. Den hatte der Valentin ja bereits in seinen Träumen geschmeckt. Und der Graf gab ihm Wein zu trinken, den hatte Valentin auch schon im Traum geschmeckt. Der Graf wollte ihn betrunken machen und ihm das Krönchen vom Hut stehlen. Und Valentin war auch betrunken, aber er merkte doch, was der Graf vorhatte, und die beiden kämpften miteinander und das Krönlein ging hin und her, und jedes Mal fiel ein Taler zu Boden. Zuletzt steckte der Graf das kleine Zauberding in den Mund und schluckte es hinunter. "Jetzt gehört die Natternkrone mir auf ewig", schmatzte er. Dem Valentin war es dann auch recht. Er besaß mehr, als er je in seinem Leben ausgeben würden können. Und der Wald war der Wald, und die Wiesen waren die Wiesen.

Der Geldsack

Der Graf aber bekam Schluckauf - "Hig!" - , und ein Taler klimperte in seinem Bauch - "Hig!" - noch ein Taler - "Hig!" Und der Graf blähte sich auf, wurde zu einem Geldsack, und wurde so schwer, dass die Erde ihn nicht mehr tragen konnte und endlich verschluckte. In der Steiermark gibt es immer wieder einen, der nach dem Grab des Grafen sucht - wird erzählt, so oder so ähnlich ...

Info: "Rund um die Burg" - 24 Stunden, 48 Autoren und unzählige Bücher: Von Freitagabend bis Samstag findet sich das Who ist who der heimischen Literaturszene rund um das Wiener Burgtheater ein.

Zur Person: Zwischendurch Sagen

"Rund um die Burg" mit Michael Köhlmeier

Michael Köhlmeier: Geboren wurde er 1949 in Vorarlberg, Schon Anfang der 1970er-Jahre, während er Politikwissenschaft und Germanistik studierte, wurde er mit Hörspielen als Schriftsteller bekannt. Musik macht er auch. Den "Club 2" moderiert er manchmal. Köhlmeier ist mit der Schriftstellerin Monika Helfer verheiratet.
Bücher: Zuletzt erschien "Madalyn", die erste Liebe einer 14-Jährigen. Aufsehen erregte 2007 "Abendland", der Roman eines Jahrhunderts. Köhlmeier hat zwischendurch immer gern Sagen neu erzählt. "Das Sonntagskind. Märchen und Sagen aus Österreich", aus dem er zum Auftakt des Festes vorliest, erscheint Ende
September.

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