Regisseur Castellucci: Wir sind "zugestellt mit falschen Bildern"

Unfassbar intensiv und an der Grenze der Selbstentäußerung: Audrey Bonnet als geschundene Jeanne d’Arc in Castelluccis Regie in Lyon
Der italienische Universalkünstler inszenierte in Lyon und fordert radikale Zugänge.

Er polarisiert und fasziniert zugleich. Er wird hymnisch gefeiert und ebenso massiv abgelehnt. Denn das Theater des Romeo Castellucci ist heutig, bildgewaltig, verstörend. Egal, ob er bei Glucks "Orfeo ed Euridice" mit einer Wachkoma-Patientin arbeitet, bei Schönbergs "Moses und Aron" einen echten Stier auf die Bühne hievt oder bei "Über das Konzept des Angesichts bei Gottes Sohn" mit den Düften von Fäkalien arbeitet – Castellucci geht stets bis an die Schmerzgrenzen und manchmal sogar weit darüber hinaus.

Der KURIER traf den italienischen Theatermacher anlässlich der Premiere von Arthur Honeggers "Jeanne d’ Arc au bûcher" (siehe Kritik unten) an der von Serge Dorny geleiteten Opéra de Lyon. Ganz entspannt und sehr freundlich beantwortet der 1960 in Cesena geborene Künstler Fragen und gewährt Einblicke in sein Universum.

Regisseur Castellucci: Wir sind "zugestellt mit falschen Bildern"
Castellucci
"Was zwei Stunden vor einer Premiere nicht getan ist, lässt sich jetzt nicht mehr korrigieren", sagt der für seine akribische Arbeit bekannte Italiener. Akribie in der Vorbereitung ist auch nötig, denn Castellucci führt nicht nur Regie, sondern ist immer auch für das Bühnenbild, die Kostüme, das Licht und für das Gesamtkonzept zuständig. "Ich könnte nicht einfach ,nur‘ Regie führen. Ich mache das aber nicht, um über alles die Kontrolle zu haben." Lachend: "Das natürlich auch." Dennoch: "Theater sollte ein Gesamtkunstwerk sein", so der in der Theorie und Philosophie gleichermaßen Beheimatete.

Castellucci weiter: "Theater ist für mich ein Ort der Reflexion, des Nachdenkens. Ich glaube nicht an ein pädagogisches Theater, das die Menschen erzieht. Jeder Besucher ist mündig genug, um selbst über das Gesehene und Gehörte nachzudenken. Er muss nicht belehrt werden. Theater sollte auch keine Antworten geben. Es muss vielmehr Fragen stellen. Der Idealzustand ist erreicht, wenn man als Zuseher wie als Ausführender ganz auf sich selbst zurückgeworfen wird. Denn die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich und damit mit Leben und Tod – vor der haben wir doch alle Angst."

Blumen pflücken

Kann Castellucci verstehen, dass man ihm oft seine Radikalität vorwirft und ihn massiv attackiert? "Nicht ich bin radikal. Das Theater ist radikal. Weil es sich aus dem Leben speist. Im Leben ist ja alles da, was man für eine Theateraufführung, für eine auch existenzielle Theatererfahrung braucht. Man muss nur in den Garten des Lebens gehen und die eine oder andere Blume pflücken. Die schönen wie die hässlichen."

Und weiter: "Man sollte – wie etwa bei ,Jeanne‘ Symbole hinterfragen, Statuen zertrümmern, um wieder den Blick auf das Wesentliche zu bekommen. Wir sind heute zugestellt von falschen Bildern. Der Blick auf den Menschen wird uns verstellt. Deswegen ist bei jeder Arbeit der Raum zu 80 Prozent der Schlüssel zur Lösung."

Neue Räume erschließen wird Castellucci auch in Zukunft. An der Bayerischen Staatsoper kommt Wagners "Tannhäuser". Bei den Salzburger Festspielen die "Salome" von Strauss. Und neben einer "Zauberflöte" steht ein Abend zum Thema "Über die Demokratie in Amerika" an. "Das hat aber nichts mit Donald Trump zu tun, sondern mit dem Philosophen und Politiker Alexis de Tocqueville."

Kritik aus Lyon: Ein Fanal voller Schmerz und Wahrhaftigkeit

Ein Klassenzimmer. Unterricht. Die Pausenglocke läutet. Die in Schuluniformen gewandeten Mädchen stürmen kichernd hinaus, die gestrenge Lehrerin folgt. Eine Putzkraft kommt. Doch statt sauber zu machen, räumt sie auf. Im wahrsten Sinne des Wortes. Tische, Bänke, Stühle, Bilder, die Tafel – alles fliegt raus. Selbst der Bodenbelag wird herausgerissen, die Türen werden verschlossen. Und in einem schwarzen Erdloch beginnt die Transformation. Jeanne d’ Arc geht zum Scheiterhaufen.

Was zu Beginn wie ein Christoph-Marthaler-Abend anmutet, wird in den Händen von Romeo Castellucci rasch zu einer bildgewaltigen, assoziativen, oft verstörenden, ganz nah bei Autor Paul Claudel und Komponist Arthur Honegger angesiedelten Mythen-Zertrümmerung.

Pferdekadaver

Ein Pferdekadaver beginnt zu atmen. Jeanne hängt nackt an den Wänden einer Irrenanstalt, wechselt immer wieder Rolle und (Erzähl-)Perspektiven. Als Vertreter der "Realität" versuchen Schulpersonal und Polizei, diese Spirale des Untergangs zu durchbrechen. Nicht sichtbare (sehr gute) Chöre und zarte Engelsstimmen singen dazu. Die unfassbar intensive Audrey Bonnet mutiert zu Jeanne. Nackt und verdreckt ist sie allem ausgeliefert. Den höhnischen Verhandlungen, dem zynischen Machtpoker und den von Dirigent Kazushi Ono und dem Orchester perfekt realisierten Klangwelten eines Arthur Honegger.

Castellucci zitiert dabei auch aus der Kunstgeschichte, schafft Szenen von archaischer Kraft. Die Oper als gesellschaftlich-konventionelles Ritual hat hier ausgedient, denn Castellucci beschwört andere, zeitlos-gültige Riten. Er macht aus Jeanne eine Frau aus Fleisch und Blut, die sich selbst ihr Grab schaufelt und von einer Art "Urmutter" dieser Welt entzogen wird.

Audrey Bonnet geht dabei in physischer wie psychischer Hinsicht an die Grenzen der Selbstentäußerung, und die Oper wird zu einem Fanal des Daseins.

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