Oscarreife Dankesreden
Wenn die Golden Globes auch in rhetorischer Hinsicht ein Vorbote auf die Oscars sind, dürfen sich die Zuschauer auf denkwürdige Dankesreden freuen: Meryl Streep nützte bei der Gala Mitte Jänner die Gelegenheit, um den amtierenden US-Präsidenten zu kritisieren (ohne seinen Namen zu nennen – was ihn nicht daran hinderte, Streep danach als "überbewertet" zu bezeichnen).
Millionenpublikum
In einer Branche, wo für gewöhnlich nichts dem Zufall überlassen wird, sind die kurzen "Acceptance Speeches" bei Preisverleihungen so etwas wie die letzte Bastion der Spontaneität. Und ein geeignetes Medium, um vor einem Millionenpublikum – bei den Oscars sieht sogar eine knappe Milliarde zu – politische Botschaften zu verbreiten, ohne sofort von einem Presseberater zurückgepfiffen zu werden. "Es ist eine großartige Plattform, die Schauspielern da zur Verfügung steht. Außerhalb ihrer Filme haben sie keine Möglichkeit, dermaßen klar vor so einer so großen Masse aufzutreten", sagt der deutsche Rhetoriktrainer Michael Ehlers. Er coacht selbst Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, Spitzensportler, Manager, Schauspieler. Als Filmfan beobachtet er die jährlichen Oscar-Reden ganz genau. Welche ihn in den vergangenen Jahren besonders beeindruckt hat? "Leonardo DiCaprio", antwortet Ehlers ohne Überlegen. "Alle haben darauf gewartet, dass er endlich den Oscar gewinnt. Dann hat er eine großartig vorbereitete Rede gehalten. Alles hat gestimmt: Körpersprache, Stimme, eine gute Dramaturgie im Ablauf."
Reine Typsache
Ähnlich verhielt es sich mit Meryl Streeps Anti-Trump-Rede bei den Globes: "Sie hat ihre ganze Klugheit eingesetzt und eine perfekt vorbereitete Rede gehalten, die eine große Wirkung erzielt hat. Personen, die so einen Status haben wie sie, nehmen wir jederzeit einen politischen Appell ab."
Kollektives Gedächtnis
Die Nominierten wissen um die Bedeutung der Dankesrede. Einige Oscar-Gewinner blieben nach ihrem Triumph im kollektiven Gedächtnis – nicht, weil sie danach einen Film-Hit nach dem anderen ablieferten, sondern weil sie die knappe Minute auf der Bühne des Dolby Theatre optimal genützt haben. "Vorbereitung muss unbedingt sein", sagt Rhetorikexperte Ehlers zwar – doch einige der denkwürdigsten Acceptance Speeches der Oscar-Geschichte bestachen gerade durch ihre Spontaneität.
Begrenzte Redezeit
Nach der ausufernden Rede der Schauspielerin Greer Garson im Jahr 1943 wurde die Redezeit auf eine Minute begrenzt, vor sieben Jahren sogar auf 45 Sekunden. Wer dann immer noch nicht aufhören möchte, wird vom Crescendo des Orchesters von der Bühne gefegt. Wie also diese kurze Zeit am besten nützen? In einem Video, das vor einigen Jahren an alle Nominierten verteilt wurde, gab Zweifach-Oscar-Preisträger Tom Hanks Tipps. Die größte Herausforderung sei es demnach, den Weg vom Stuhl zum Rednerpult in weniger als einer Minute zu schaffen, so der Filmstar – man solle die wertvolle Redezeit nicht mit ausufernden Umarmungen vergeuden. Mit dem Satz "Maximise your moment" motivierte er alle Beteiligten zu kreativen und überraschenden Momenten. Und die bleiben aus, wenn eine ewig lange Liste mit Namen unbekannter Agenten, Stylisten und Berater vorgelesen wird.
Bitte keine Listen
"In guten Dankesreden wird auf die komplette Auflistung einzelner Namen verzichtet", mahnt auch Ehlers. "Man pickt die zwei wichtigsten heraus und weist darauf hin, dass ein Oscar nie die Arbeit eines Einzelnen ist." Die Academy ersucht daher im Vorfeld alle Nominierten um eine Liste mit Namen, die während der Rede eingespielt werden.
An dieser Maßnahme mag Gwyneth Paltrow schuld sein, die vor 18 Jahren so ziemlich jedem Menschen in Los Angeles gedankt hat. Und so heftig schluchzte, dass sie sich angeblich bis heute für ihren Auftritt schämt und den Goldjungen in ein Kammerl verräumt hat. Dennoch: "Paltrows Auftritt war wahnsinnig authentisch", sagt Ehlers. "Wenn Menschen etwas ehrlich meinen, schwingt der Körper im Einklang mit der Sprache. Bei Paltrow sieht man, dass sie von der Situation überwältigt war. Bei Angst gehen die Schultern hoch, der Kopf senkt sich demütig ab, der Blick geht nach unten. All das hat sie gemacht."
Peinlich
Tja – da schafft man einen der spannendsten Filme aller Zeiten und scheitert dann an einer 45-Sekunden-Rede. Vermutlich ist es genau das, was die Sache mit der Acceptance Speech so faszinierend macht.
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