Nick Cave in Wien: Engel, Dämonen und Magie
Menschenscheu ist Nick Cave nicht. Als der Musiker, der vor wenigen Wochen 60 geworden ist, am Mittwoch in der Wiener Stadthalle auftrat, konnte er nicht genug davon kriegen, mit seinem Publikum auf Tuchfühlung zu gehen, die Hände der Fans zu nehmen und zu halten und ein Star zum Angreifen zu sein. So, dass er zwischendurch eine zu beherzt zugreifende Verehrerin - nicht ausschließlich scherzhaft - warnen musste: „Das ist sexuelle Belästigung!“
Mehr als 10.000 Leute waren in die Stadthalle gekommen - nur einer der beiden obersten Ränge war nicht offen. Es ist tröstlich, zu sehen, dass ein Künstler, der so viele Jahre lang ohne den geringsten Kompromiss an Verkaufszahlen schon fast stur seinen eigenen Weg gegangen ist, nur auf Grund der Qualität seiner Darbietung diese Halle füllen kann.
Trotzdem fragten sich vor dem Konzert nicht wenige, ob der kantige, eigenwillige Sound von Nick Cave und seiner Band The Bad Seeds in dieser Halle gut aufgehoben ist. Können Songs, die zwischen rabiaten Wutausbrüchen und elegischen Erzählungen über spartanischen Rhythmen, zwischen melancholischen Klavierballaden und infernalischem Getöse pendeln, in einem Umfeld wirken, das für Zirkus-Inszenierungen von Chart-Pop-Helden oder den Konsens-Sound von Mainstream-Rock-Stars gemacht ist? Gehören sie nicht eher in eine intime Clubatmosphäre?
Bei jedem anderen vielleicht. Aber nicht bei Nick Cave. Er macht sie auch in der Stadthalle zu einem Erlebnis, das man nicht so schnell vergisst. Und das schafft er, obwohl er für diese Tour durch die größten Hallen Europas genauso keinen Kompromiss macht.
Das beginnt schon beim Programm, das zu großen Teilen auf Songs aus dem fantastischen, aber nicht leicht zugänglichen Album „Skeleton Tree“ von 2016 basiert. Zwar sind etwa bei „ Anthrocene“ die Stellen mit den im Studio aufgebauten aufgewühlten Klang-Strukturen der Spielbarkeit wegen live etwas geradliniger. Das macht sie aber keine Spur weniger eindringlich. Denn Cave lebt, atmet, singt und performt sie mit all seinem Wollen und jeder Faser seines Körpers.
Schon das düstere „Magneto“ ist so faszinierend. Und „From Her To Eternity“ und „Tupelo“ aus den 80er-Jahren schicken mit Caves aufgebrachter, gehetzter Erzählstimme und der dämonischen Stimmung der Musik die Gänsehaut von den Zehenspitzen zu den Haarwurzeln. Cave schreit und flüstert, zappelt und bebt, als würden die Töne und Worte sich wie Pfeile in sein Fleisch bohren. Dann steht er wieder ganz vorne am Bühnenrand, die Hände beschwörend über den Köpfen der Fans, so weit ins Publikum gebeugt, dass er schon fast hineinfällt.
Dann wechselt er zum Klavier, stimmt mit „The Ship Song“ und der immer noch zutiefst berührenden Liebes-Ballade „Into My Arms“ ruhigere, melodiösere Lieder an, bevor er zu dem wie ein Horrorfilm anmutenden „Red Right Hand“ und dem himmlisch schönen „Distant Sky“ kommt.
Auch in der Show gibt es keine Kompromisse an die Größe der Halle: Ein bisschen Licht - mal rot, mal lila, mal blau - zwei oder drei schwarz-weiß Videos und genauso wenige Standbilder auf einen Vorhang projiziert. Das ist schon alles an optischem Beiwerk. Und es reicht Cave. Den Rest macht er mit seinem fast schon hypnotischen Charisma.
Allerdings bleibt es ein Rätsel, wie er das macht. Denn wenn er vorne am Bühnenrand steht, wieder einmal die Hand eines Fans hält, sieht es so aus, als singe er nur für diese Person, während alles andere ausgeblendet bleibt. Aber das Gefühl, dass er scheinbar nur dieser Person vermitteln will, dringt trotzdem bis in den letzten Winkel der obersten Ränge und geht selbst dort noch durch Mark und Bein.
Zu „The Weeping Song“ in der Zugabe badet Cave dann in der Menge, dirigiert von einem winzigen Podest mitten im Publikum das Klatschen im Bolero-artigen Rhythmus. Und „Stagger Lee“ und „Push The Sky Away“ - zelebriert mit hunderten Fans auf der Bühne - werden danach zum finalen Triumphzug, der noch mal deutlich zeigt, wie Cave auf der Bühne zum Trance-Täter wird, besessen - je nach Song - von Engeln oder Dämonen.
Abseits der Bühne gibt sich Cave gern als nüchterner Realist. In Interviews lehnt er die Idee strikt ab, dass bei seinen Konzerten etwas Spirituelles, etwas Magisches passiert. Aber sein Stadthallenauftritt war - wenn auch vielleicht nicht spirituell – mit Sicherheit magisch.
KURIER-Wertung:
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