Immerhin ist er nicht weggelaufen
Aber hallo, wer sagt denn so etwas?
"Der Österreicher hasst die Tschechen, weil er selbst nichts anderes ist als ein dünn mit deutschem Zuckerguss glasierter Tscheche."
Das ist nicht korrekt. Konstanty Willemann ist nicht korrekt.(Wenigstens den Zuckerguss hätt’ er sich sparen können.)
Einem befreundeten Arzt bettelt er regelmäßig Morphin ab. Die polnischen Soldaten, von Kugeln und Splittern durchbohrt, würden es dringender brauchen.
Warschau 1939. Die Stadt wurde soeben von den Deutschen vergewaltigt.
Konstanty Willmann liegt im pickigen Bettzeug der Prostituierten Salomé und packt die Flasche Gift aus. Er will das reine, das passive Ich erreichen. Das Nicht-Ich, ohne Körper und Gedanken.
War der 29-Jährige denn vorher mehr Ich?
Ein Niemandscharakter war und ist er. Ein Dandy von Adel. Ein Möchtegernkünstler, der sich zu bekannten Leuten ins Café gesetzt hat.
Zerrissen zwischen den Küssen seiner Hure und der keuschen Liebe seiner Frau und des vergötterten Sohnes.
Zerrissen auch, weil seine Mutter Polin ist und der Vater ein Deutscher – hochdekoriert im ersten Krieg.
Lokomotive
Szczepan Twardoch muss Blutdruck 200 gehabt haben, als er seinen atemlosen Roman "Morphin" geschrieben hat. Wie mit einer wuchtigen Lok fährt er damit in den Vorabend des Weltkriegs ein.
Die Geschwindigkeit ist hoch, die Sogwirkung überraschend gering.
Manche Passagiere und ihre langen Geschichten hätte der 34-jährige neue Star am polnischen Literaturhimmel nicht derart hofieren müssen. Sie verdampfen.
Dass Twardochs Held von einem Gespenst begleitet wird – von seinem Gewissen? dem Schutzengel? –, nimmt dem Buch etwas Tempo.
Was angenehm ist.
Wer bin ich? Die Romanfigur sekkiert mit dieser Frage. Leser in Polen dürften die Auseinandersetzung mit der Identität gebraucht haben. "Morphin" war ein Bestseller.
Konstanty Willmann entscheidet sich: Er wird Pole, jetzt "richtig" ... indem er Deutscher wird. Er tritt in den Widerstand, Vaters Uniform und falsche Papiere helfen ihm auf seiner Mission im noch neutralen Budapest.
Er ist nicht weggelaufen.
Er war kein Feigling.
Über das Ende könnte man traurig sein: "Nichts ist für etwas, alles ist nur." Aber man ist nicht traurig. Dieses "Morphin" wirkt nur kurz.
KURIER-Wertung:
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