"Moonlight" handelt von einer vernachlässigten Gruppe: "Arm, schwarz und schwul"

Regisseur Barry Jenkins mit seinem Oscar für den besten Film.
Regisseur Barry Jenkins im Interview über den Oscar-Sieger: "Wer Universalität anstrebt, steht am Ende mit einem Produkt da, nicht mit einem Kunstwerk."

Schon mit seinem ersten Film "Medicine For Melancholy" hatte Barry Jenkins 2008 in der amerikanischen Filmbranche für ein gewisses Aufsehen gesorgt. Statt sich daraufhin für gut bezahlte Mainstream-Produktionen engagieren zu lassen, widmete sich der Regisseur lieber weiter eigenen Herzensprojekten. Acht Jahre dauerte es, bis der heute 37-jährige mit "Moonlight" (Kinostart: 10. März) einen Nachfolger vorlegte. Und der entpuppte sich prompt als Meisterwerk, das – trotz der vermeintlich "zu schwulen und zu schwarzen" Geschichte – bei der Oscarverleihung am Sonntag als bester Film ausgezeichnet wurde.

KURIER: Mr. Jenkins, Ihr Film "Moonlight" basiert auf dem nie aufgeführten Theaterstück von Tarell McCraney. Wie sind Sie an diesen Stoff gekommen?

Barry Jenkins:Tarell schrieb dieses sehr autobiografische Stück, als er im College war, und tatsächlich ist es nicht nur nie aufgeführt worden, sondern war vermutlich sogar unaufführbar. Und eigentlich auch unverfilmbar. Aber ein gemeinsamer Freund von Tarell und mir las es und musste an mich denken. Denn ich bin mit einer Mutter aufgewachsen, die der im Stück und nun in meinem Film sehr ähnlich ist: arm und cracksüchtig.

Erkannten Sie sich selbst auch darin wieder?

Und wie! Tatsächlich war mein erster Gedanke: Woher weiß dieser Kerl so viel über mich und mein Leben? Zumal das alles ja auch noch in genau dem Teil von Miami angesiedelt war, in dem auch ich groß geworden war. Aber natürlich wusste Tarell nicht das Geringste über mich, wir waren uns nie begegnet. Unsere Erfahrungen ähnelten sich nur auf bemerkenswerte Weise. Seine Geschichte ging mir so nahe wie keine andere je zuvor, weil sie so vieles berührte, worüber ich nie wirklich gesprochen hatte. Als die Schleusen einmal geöffnet waren, konnte ich dann nicht anders, als einen Film daraus zu machen.

Bei allen Gemeinsamkeiten zwischen Ihnen gibt es einen großen Unterschied: Chiron ist – genau wie McCraney – schwul, Sie sind heterosexuell ...

Das hat mich zögern lassen, keine Frage.

Weil Sie diese eine Schlüsselerfahrung eben nicht mit der Figur teilen?

Genau, ich weiß nicht, wie es ist, schwul zu sein. Das erschien mir schwierig. Denn eine Geschichte wie diese profitiert davon, wenn sie aus der Ich-Perspektive erzählt wird. Natürlich konnte ich mich einfühlen in Chiron. Und ich habe gewisse Erfahrungen in meinem Leben gemacht, die mir als Parallelen dienten. Etwa, wenn ich dafür angefeindet wurde, dass ich Hand in Hand mit einer weißen Frau durch die Stadt lief. Aber gleichzeitig war mir immer bewusst, dass das nicht das Gleiche ist. Ich hatte wirklich Angst, dass es mir nicht gelingen würde, den Schmerz, die Wut und die Traurigkeit dieses jungen Mannes in meinen Film übertragen zu können.

Was brachte Sie schlussendlich zum Umdenken?

Diese Geschichte nicht zu erzählen kam, wie gesagt, nicht infrage. Irgendwann habe ich mir dann vor Augen geführt, dass ich diese Ich-Perspektive ja durchaus hatte, nämlich in Form von Tarells Text. Also habe ich alles daran gesetzt, sie so getreu wie möglich in mein Drehbuch zu übertragen. Mir war die Verantwortung sehr bewusst, die mit einer Figur wie Chiron einhergeht.

Wie meinen Sie das?

Nun, das Kino erzählt – zumindest im Mainstream – so gut wie nie von Männern, die arm, schwarz und schwul sind. Wenn das dann doch mal der Fall ist und diese Figur wirkt auf irgendeine Weise unglaubwürdig, sodass sie das Publikum kaltlässt, dann hat man mehr Schaden angerichtet als Gutes getan. Denn dann heißt es beim nächsten Mal, wenn sich jemand an so einen Stoff wagt: Vergiss es, das hat schon bei Barry Jenkins nicht funktioniert.

Arm, schwarz und schwul – erzählen Sie damit in "Moonlight" überhaupt eine allgemein gültige Geschichte?

Darauf hatte ich es nie angelegt. Wer Universalität anstrebt, steht am Ende mit einem Produkt da, nicht mit einem Kunstwerk. Ich hatte nicht die Absicht, dass andere Menschen sich in Chiron wiedererkennen, sondern wollte nur so authentisch wie möglich ihn und seine Erfahrungen zeigen. Aber mir scheint, dass gerade die Tatsache, dass diese Figur und ihr Milieu so spezifisch sind, viele Zuschauer anspricht. Vermutlich hat jeder andere Aspekte, mit denen er oder sie sich in "Moonlight" besonders identifizieren kann. Doch insgesamt, habe ich den Eindruck, ist es gerade die völlige Abwesenheit von Figuren wie Chiron im Kino, die dafür sorgt, dass mein Film einen besonderen Nerv trifft.

Ausgerechnet von "schwuler Seite" kamen einige der wenigen kritischen Stimmen zu "Moonlight"...

Wem sagen Sie das. Einigen war der Film nicht schwul genug, vor allem das Ende. Da weiß ich, was gemeint ist, das kann ich nachvollziehen. Nicht verstehen kann ich, wenn jemand sagt, der Film sei dezidiert für ein heterosexuelles Publikum gedreht. Vielleicht sollten wir an dieser Stelle nicht zu viel über den Verlauf der Geschichte verraten. Aber lassen Sie es mich so sagen: es geht in "Moonlight" um die Entwicklung von Chiron, und die schreitet sehr langsam voran. Zumal im letzten Drittel des Films, da erzählen wir ja fast in Echtzeit. Das was dort dann letztlich als Coming-out stattfindet, musste in meinen Augen zwangsläufig etwas ganz Zartes und Zaghaftes sein. Alles was über den Körperkontakt hinausgeht, den wir am Ende zeigen, hätte Chiron sozusagen in 1000 Stücke zerspringen lassen.

Vermutlich ist es aber so, dass "Moonlight" bei Teilen des Publikums – oder auch bei den Oscars – weniger erfolgreich gewesen wäre, wenn schwuler Sex eine zentralere Rolle gespielt hätte, denken Sie nicht?

Das kann schon sein. Ich verstehe, dass es Leute gibt, die Chiron im Bett mit einem Mann sehen wollen. Und ich weiß auch, dass es wichtig ist, dass Typen wie Chiron beim Sex gezeigt werden. Aber "Moonlight" will, kann und soll nicht das Nonplusultra für Geschichten über schwule Schwarze sein. Für meine Geschichte spielte dieser Aspekt aber nicht die größte Rolle. Für mich als Filmemacher ist ein Kuss letztlich wichtiger und intimer als das Zeigen von Genitalien. Und außerdem erinnere ich auch gerne noch mal an den zweiten Akt von "Moonlight". Da gibt es durchaus eine sexuelle Körperlichkeit zwischen zwei schwarzen Jugendlichen, wie man sie sicher auch nicht oft auf der Leinwand sieht.

(Interview: Patrick Heidmann)

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