Liebenswert und lebensecht: "Mein Leben als Zucchini"

mein leben als zucchini. honorarfrei.
Oscarnominierter Animationsfilm des Schweizers Claude Barras.

Er hat eine Bierdose in seinen Rucksack gepackt. Als traurige Erinnerung an seine Mutter, die tagtäglich Unmengen davon konsumierte. Nun, nach ihrem plötzlichen Tod, kommt der Neunjährige mit dem Spitznamen Zucchini in ein Waisenhaus. Unnötig zu sagen, dass sich seine Gemütslage dort nicht aufhellt.

Liebenswert und lebensecht: "Mein Leben als Zucchini"
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Es ist keine nette Animationsfilm-Story à la Pixar oder Disney, die der Schweizer Regisseur und Autor Claude Barras erzählt - und vielleicht geht einem der Film gerade deshalb so unter die Haut. Denn die sieben vom Leben geschundenen Waisenkinder, die sich anfangs boshafte Scharmützel liefern und dann zusammenhalten wie Pech und Schwefel, sind nicht nur liebenswert, sondern auch lebensecht. Sie haben – da sie aus schwierigsten Familienverhältnissen kommen – keine unmittelbaren Bezugspersonen mehr, die für sie da sind. Also versuchen sie, zusammen ihren Platz in der Welt zu finden. Die Freunde im Heim, mit denen man sich zusammenrauft, werden zur Ersatzfamilie.

Das klingt verstörend, ist es aber nicht: Barras und seiner Drehbuchautorin Céline Sciamma gelingt das Kunststück, dem tristen Thema Humor einzuhauchen. Wie sich die Neun- bis Elf-Jährigen über Sex unterhalten ("Explodiert den Buben da wirklich der Schniedel?"), wie sie beim Schiausflug ihren Spaß im Schnee haben und abends fröhlich abtanzen, wie sie quietschend in der Geisterbahn fahren – Lebensfreude pur, die ansteckt. Die Optik der Puppen tut natürlich ein Übriges: Mit ihren großen Köpfen und riesigen Kulleraugen haben Zucchini, Camille, Simon, Ahmed, Jujube, Alice und Beatrice etwas Dackeliges, Drolliges an sich. Zum Knuddeln.

Liebenswert und lebensecht: "Mein Leben als Zucchini"
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Jeder – egal, wie er oder sie aufwächst und welche Eltern er hat oder eben nicht – hat das Recht auf ein bisschen Glück und ein sicheres Zuhause: Das ist die Botschaft dieses nachdenklich machenden, manchmal melancholischen und dann doch wieder so lebensbejahenden, fröhlichen Films. Als er 2016 bei der Quinzaine des Réalisateurs in Cannes lief, war sofort klar, dass da etwas Besonderes zu sehen war. Es folgten etliche Auszeichnungen und – als Krönung – die Nominierung für den Oscar als bester fremdsprachiger Film. Zucchini und Co. sind noch lange nicht am Ende ihres Weges angekommen.

Der Regisseur im Interview

Zum Gespräch in einem Pariser Hotel hat Claude Barras eine Zucchini-Puppe mitgebracht. Erstaunlich klein und erstaunlich hart. „Gehärteter Schaumstoff. Und man kann ganz leicht ihren Ausdruck ändern“. Sagt’s, zieht drei kleine schwarze Stoffstreifen aus der Hosentasche, nimmt den mit Klettband aufgeklebten Grinsemund von der Puppe und ersetzt ihn durch einen Mund mit heruntergezogenen Mundwinkeln sowie die geraden durch hochgezogene Augenbrauen. Mit einem Schlag hat die Puppe einen ganz anderen Ausdruck. „Man stellt sich das viel komplizierter vor, wie die Puppen konstruiert sind, oder?“, sagt er und grinst. In der Tat.

War es schwierig, das Projekt umzusetzen?

Die Arbeit an dem Film war für mich eine Freude, aber es war auch eine stete Gratwanderung zwischen Finanzierbarkeit und künstlerischem Anspruch. Wir hatten nur ein kleines Budget, mussten schnell arbeiten und trotzdem gute Resultate liefern. Eine ganz schöne Vorgabe, die uns dazu zwang, alles möglichst simpel zu gestalten. Damit die großen Gefühle rüberkommen, habe ich mir die übergroßen Köpfe mit den übergroßen Augen einfallen lassen. Da kam mir meine Erfahrung als Illustrator zugute – von da her habe ich schon eine Ahnung, wie man Emotionen sichtbar machen kann.

Sie haben die Figuren mit einer Gruppe von Freunden entwickelt?

Ja, ich habe die Figuren gezeichnet und dann hatte ich zwei Assistenten, die sie quasi zum Leben erweckt und Skulpturen davon angefertigt haben. Und dann noch ein Team von fünf Leuten, die aufgrund der Skulpturen die Gussmodelle, die Gliedmaßen und die Kleider der Puppen angefertigt haben. Insgesamt haben am ganzen Film über alle Phasen hinweg rund 200 Leute mitgearbeitet – wohlgemerkt, bei Pixar sind es mindestens 1500 Mitarbeiter pro Film. Da sieht man, mit welch vergleichbar geringen Ressourcen wir den Film gemacht haben.

Wie lange hat es gebraucht von der ersten Idee zum Film bis zur Fertigstellung?

10 Jahre. Ich hatte das Buch vor 10 Jahren gelesen und es dann zur Seite gelegt, weil ich damals mit etlichen Kurzfilmprojekten beschäftigt war. Dazwischen habe ich immer wieder an der Kinoadaption des Buchs gearbeitet, aber ich fand sechs Jahre lang keinen Produzenten, der daran interessiert war. Als ich dann endlich einen gefunden hatte (Rita Productions/Genf, Anm.), dauerte es noch vier Jahre, bis der Film fertig war. Aber das ist normal bei Animationsfilmen.

Ist es schwer, Financiers für so ein Projekt zu finden?

Schwierig hat es der Realismus des Films gemacht. Dass ich zeigen wollte, wie die Kinder Gewalt erfahren, schlecht behandelt werden, auch untereinander boshaft sind. Damit habe ich mit der sonst so heilen Welt der Animationsfilme gebrochen.

Hatten Sie den Film als Film für Kinder oder für Erwachsene konzipiert?

Das Buch war eigentlich für Erwachsene geschrieben. Es ist in der Ichform geschrieben – Zucchini erzählt seine Geschichte. Er erzählt seine unangenehmen Erfahrungen im Waisenhaus sehr detailliert und sehr ungeschminkt. Ich wollte den Film dann so gestalten, dass auch Kinder ihn sehen können. Ich wollte auf eine nette Art zeigen, wie man reagiert, wenn man mit Gewalt konfrontiert ist und wie man diese Kette der Gewalt durchbrechen kann, ohne daran selber zu zerbrechen. Jetzt zeigt sich, dass sich den Film fast zu gleichen Teilen Kinder und Erwachsene ansehen. Und die Rezeption ist bei allen gleich positiv, was mich natürlich sehr freut. Der Film ist bis jetzt in den Niederlanden, in Belgien, in der Schweiz, in Frankreich, in Deutschland und Italien rausgekommen und er ist in 50 Länder verkauft. Ein unglaublicher Erfolg.

Und für die Oscars ist er auch nominiert?

Ja, verrückt, oder? Damit haben wir nicht gerechnet.

Es gibt Vergleiche mit Tim Burtons Figuren. Ehrt Sie das?

Ja, das ist ein Riesenkompliment für mich, weil ich Tim Burtons Filme und den fröhlichen Stil seiner Figuren sehr mag. Aber in der Art Regie zu führen habe ich mich eher am Stil der Dardennes oder Ken Loachs orientiert. An iIhrer Art von sozialem europäischem Kino.

Erfahrungen der Kindheit wirken ein ganzes Leben lang nach. Ist es das, was Sie im Film ausdrücken wollten?

Naja, man sagt ja immer, Menschen, die in ihrer Kindheit Opfer von Gewalt waren, werden selber gewalttätig und geben diese Gewalt dann auch wieder an ihre Kinder oder Partner weiter. Ich habe im Zuge der Recherchen für den Film sogar Menschen getroffen, die keine Kinder haben wollten, weil sie Angst hatten, diesen quasi aus ihrer eigenen Erfahrung heraus etwas Böses anzutun.

Wie kam die Kooperation mit Céline Sciamma zustande?

Wir haben uns gefunden, als ich nach einem Produzenten gesucht habe. Ich hatte kurz zuvor ihren Film „Tomboy“ gesehen und ihn ganz toll gefunden. Céline ist sehr neugierig und sehr interessiert, auch an der Technik der Animation. Sie hat mich sehr unterstützt beim Drehbuchschreiben. Im Buch war ja die Rede von viel mehr Kindern und ich wusste, das ist zu viel. Also beschränkten wir uns auf 7 Charaktere, auf 7 Persönlichkeiten. Es sollte realistisch wirken. Céline hat mich sehr unterstützt dabei, dass die Chemie und die Balance zwischen den Charakteren stimmt. Dass auch das Gleichgewicht der Geschlechter passt, dass der Dramatikbogen hält. Dinge, auf die ich gar nicht geachtet hätte. Am Ende sieht alles immer ganz leicht aus, aber das ist es nicht. Ja, wir haben uns gefunden, weil sie Animationsfilme auch so mag und sich hervorragend im Genre auskennt. Unsere Zusammenarbeit war irgendwie magisch und ich würde gerne wieder mit ihr kooperieren. Ich werde wieder einen Animationsfilm drehen. Ich habe Blut geleckt.

Hätten Sie gedacht, dass der Film so ein Erfolg wird?

Nein, nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich das geglaubt. Auch nicht, dass er so viele Zuschauer hat.

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